Still schweigt der See. Tina Schlegel

Still schweigt der See - Tina Schlegel


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Ein Name, er musste einen Namen herausfinden. Später dann den Standort der Geiselnehmer übermitteln, vielleicht sogar mit einem Foto, den Drahtzieher, die Schwachstellen. So vieles konnte für die Ermittler draußen von Bedeutung sein. Erst einmal ein Name, ein Name war ein Türöffner zu dem Menschen hinter der Maske.

      ***

      Der Einsatzbefehl kam um Viertel vor neun. Konstantin Hagen hatte die Zahnbürste im Mund, weil er eigentlich heute Vormittag freihaben sollte. Das hatte er bei seiner Berufswahl nicht berücksichtigt: dass der Dienst in der Spezialeinheit und die dazugehörige Rufbereitschaft jegliches Privatleben auf eine sehr harte Probe stellten, wenn nicht gar unmöglich machten. Er war Anfang zwanzig gewesen, als er sich dazu entschlossen hatte, mittlerweile war er seit zehn Jahren dabei und hatte mehrere hundert Einsätze pro Jahr zu absolvieren. Seine Kollegen in Nordrhein-Westfalen kamen auf neunhundert Einsätze pro Jahr. Er bereute es nicht, immerhin gehörte er zum SEK Baden-Württemberg, das neben der GSG 9 der Bundespolizei als einziges deutsches SEK zum Atlas-Verbund europäischer Spezialeinheiten zählte. Das zeigte sich nicht zuletzt durch ihre Erfolge bei dem internationalen Wettbewerb, der Combat Team Conference, die sein Göppinger Team schon dreimal gewinnen konnte. Erzählen konnte er leider niemandem davon, denn als Spezialkräfte der Polizei blieben ihre Identitäten verdeckt. Sie hatten einfach eine Kennziffer, seine lautete 349.

      Geiselnahme an der Universität Konstanz. Alle verfügbaren Kräfte aus Göppingen und das MEK aus Freiburg waren bestellt. Anreise sofort, in voller Montur. Schwer bewaffnete Geiselnehmer. Erhöhtes Risikopotenzial durch die anstehende Demonstration der FFF. Kollegen vom MEK waren bereits vor Ort zum Personenschutz, das wusste Konstantin. Personenschützer würde er vielleicht auch einmal werden. Später. Zehn Jahre würde er noch im Dienst sein, zehn Jahre, dann war er fünfundvierzig und somit im SEK-Rentenalter.

      Er stellte die Zahnbürste in den Becher, und Minuten später stand er in voller Montur auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums in Göppingen und begrüßte seine Kollegen. Seiner Freundin schrieb er, dass er kurzfristig zu einem Geschäftstermin musste, er würde sich am nächsten Tag melden. Schon oft hatte er diese Floskel einfach so geschrieben und dabei wohl gewusst, dass es vielleicht keinen nächsten Tag geben würde. Bei der Ausbildung hatten sie nicht nur gelernt, mit Waffen umzugehen, und sich außerordentliche körperliche Fitness antrainiert. Sie mussten zudem gut mit Stress umgehen können und mit der Tatsache, dass sie immer Gefahr liefen, selbst verletzt oder gar getötet zu werden. Das geschah glücklicherweise wesentlich seltener, als Krimis im Fernsehen dies vermuten ließen, aber die Gefahr bestand und wuchs in den letzten Jahren, weil auch die Verbrecherseite immer besser ausgerüstet war. Entsprechend gab es zunehmend Beschwerden von Polizisten und SEK-Leuten, technisch nicht mehr mit ihren Gegnern mithalten zu können.

      Konstantin und die anderen SEK-Mitglieder bestiegen die Einsatzfahrzeuge. Insgesamt würden sie mit vier Wagen unterwegs sein, davon war einer die technische Zentrale, in ihm fuhr auch der Chef des heutigen Einsatzes, Georg Moller, mit. Konstantin setzte sich, die Sturmhaube und den kugelsicheren Helm auf dem Schoß. Ein Kollege berichtete alle Fakten und erklärte die Lage in der Universität, mit Betonung auf den Schwierigkeiten, die der Einsatz mit sich bringen würde.

      Das Klickholster drückte ihm in die Seite, Konstantin versuchte, eine andere Position zu finden. Bei der letzten Geiselnahme hatte es einen Toten gegeben. Er erinnerte sich noch gut an den Geiselnehmer, der sich in dem Mehrfamilienhaus verschanzt hatte, weil er dem Gerichtsvollzieher nicht aufmachen wollte. Welch unwürdige Situation. Keiner wollte schießen, aber der Mann war so verzweifelt, dass er mit dem Messer auf einen Kollegen losgegangen war. Als man ihn überwältigte, war er gestürzt und auf dem Couchtisch gelandet.

      Konstanz. Zuletzt war er dort mit seiner Schwester gewesen. Im Sommer bei einer Taufe. Konstantin atmete laut aus.

      »Alles klar?«, fragte sein Nebenmann Markus Welser und bot ihm einen Kaugummi an.

      Konstantin nickte. »Hab grad an Konstanz gedacht. Ich war schon mal dort. Du auch?«

      Seine Schwester hatte am Hafen die Enten gefüttert. Sie hatten nach der Taufe noch zwei Tage angehängt. Schön war das, mal wieder mit der Schwester zu verreisen, abends in eine Bar im Hafenareal zu gehen, die eine Außenterrasse mit Blick über den Bodensee in Richtung Schweiz hatte. Dort in Kreuzlingen wollte die Schwester am nächsten Tag noch Schokolade kaufen für die Eltern. An dem kleinen Grenzübergang war vor einigen Jahren ein Grenzbeamter erschossen worden – mitten in dieser Idylle zwischen zwei Gemeinden, die sich im Krieg gegenseitig geholfen hatten. Eigentlich gehörten sie hier zusammen, eigentlich gab es hier keine Grenze. Konstanz und Kreuzlingen und der See und das Seenachtfest mit dem großen Feuerwerk. Konstantin sah schnippende Finger vor seiner Nase.

      »Hey, Kumpel, träumst du?«

      Konstantin lachte. »War echt schön dort«, sagte er und rieb sich über die Nase. »Also? Schon mal da gewesen?«

      »Klar, Mann, ich hab da studiert«, sagte Markus und wedelte mit dem Kaugummi vor Konstantins Gesicht.

      Konstantin lächelte und schob sich den Kaugummi in den Mund. Er schmeckte nach Zucker und Minze und nach zu viel von beidem. »Schöne Scheiße. Eine Geiselnahme an der Uni«, murmelte er. »Und die Demo. Das MEK ist auch schon unterwegs. Wir haben heut das volle Programm.«

      »Hab ich gehört.« Markus lockerte die Klettverschlüsse seiner Jacke. »Wird ein großes Ding heute.« Er klopfte Konstantin auf die Schulter. »Aber wie immer werden wir das hinbekommen. Wirst sehen. Heute Abend sind wir wieder daheim.«

      Konstantin nickte dankbar. Sie waren eine eingeschworene Gemeinde beim SEK in Göppingen, sie mussten sich aufeinander verlassen können, einander Mut zusprechen. Er konnte das gut, aber heute, da hatte er ein ganz mieses Gefühl.

      ***

      Das Tuch an seinem Hals kratzte, und er verspürte Durst. Seit die Männer den Hörsaal A 600 gestürmt hatten, drückte sein Magen unangenehm. Ob es Hunger war? Er hatte nichts angerührt am Morgen. Sabine würde sich wundern, wenn sie denn mal aufstand. Er krümmte sich leicht unter einem weiteren Magenkrampf zusammen. Manchmal hatte er sich kurz vor einem unerfreulichen Urteil so gefühlt. Und neulich war der Krampf gekommen, als er von der Vergewaltigungsserie gelesen hatte. Ein viertes Opfer. Und dann waren sie wieder da, die böse Erinnerung und das schlechte Gewissen.

      Der Hörsaal kam ihm plötzlich sehr warm vor. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er sah ein Schachspiel vor sich, einen Turm, der im Mondlicht ins Wanken geriet. Er sah den Schattenwurf des Königs auf den schwarzen und weißen Feldern. Eine Dame setzte sich wie von Geisterhand in Bewegung und kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Er zuckte zusammen und rieb sich unwillkürlich die Augen.

      Ich muss die Nerven behalten. Ich bin kein unbeweglicher König, keine Figur in einem Schachspiel.

      Bei der Urteilsverkündung blieb alles an den Richtern hängen, früher an ihm, egal, wie offensichtlich er lediglich der Überbringer der Botschaft gewesen war, die letztendlich nur auf den zuvor von den Ermittlern erworbenen Fakten basieren durfte. Bei den Menschen blieb nur der Richterspruch in Erinnerung. Sie überlegten nicht, wie Polizei und Staatsanwaltschaft im Vorfeld gearbeitet hatten. Bei jener Vergewaltigungsserie, die Konstanz seit über einem Jahr in Atem hielt, war es bislang noch nicht einmal zu einer Anklage gekommen.

      Er wusste selbst nicht, was an jenem Tag in ihm passiert war, vielleicht war es das Zusammentreffen der persönlichen Frustration und der Unfähigkeit, eine solche Niederlage hinzunehmen. Vielleicht hatte er auch in diesem Moment zu seiner Frau auf der anderen Seite des Tisches gesehen und sich gefragt, wer dieser Mensch noch war außer der Hülle eines vergangenen Glücks. Vielleicht, und das erschien ihm im Moment das Naheliegendste, konnte er Ungerechtigkeit einfach nicht ertragen, vor allem, wenn sein Gefühl ihm die ganze Zeit einflüsterte, dass er dazu befähigt war, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Wenngleich, auch das wusste er, sein Gefühl da durchaus anmaßend war.

      Jetzt saß er hier in der Universität und fragte sich, was bewaffnete Männer mit seinem Gerechtigkeitsgefühl zu tun hatten. Sechs Männer mit Maschinengewehren und einem –

      Sechs Männer?


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