Still schweigt der See. Tina Schlegel

Still schweigt der See - Tina Schlegel


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Konstanz.

      Ihre Mutter hatte schon in Konstanz studiert, aber damals war es noch keine sogenannte Exzellenzuniversität, erst 2007 trat die Universität Konstanz in diesen Rang und behauptete ihn seitdem konsequent. Ihr erstes Semester Psychologie, Philosophie und Rechtswissenschaften hatte Hilke mit Bravour gemeistert, das zweite stand unmittelbar bevor, ihre Seminararbeiten waren abgeschlossen, heute wollte sie einfach so in der Bibliothek stöbern.

      Es war ein besonderer Tag. Sie hatte Geburtstag. Ihre Eltern wollten am Nachmittag vorbeikommen, am Abend würden sie essen gehen mit einer Freundin, die tagsüber in einem Seminar über Tatortanalyse sitzen würde. Hilke hatte sich das auch überlegt, war sicher spannend, aber einen Tag einfach tun zu können, was man wollte, war auch mal schön. Hilke lachte vergnügt vor sich hin. All ihre Zweifel der letzten Wochen, ob Psychologie auf Dauer das richtige Fach für sie sein würde, waren wie weggeblasen. Irgendwie hatte sie bei der Seminararbeit diesbezüglich einen Einbruch erlitten. Was aber sicher auch daran lag, dass das erste Semester mit diesen drei unterschiedlichen Fächern ausgesprochen vollgepackt gewesen war. Aber das war nun ausgestanden.

      Wie vermutlich alle Studierenden hatte auch sie mit ihrer Freundin und zwei weiteren Kommilitonen den Plan gefasst, einmal in der Bibliothek zu übernachten, denn diese war rund um die Uhr geöffnet. Obwohl also diese Möglichkeit im Raum stand und von vielen auch genutzt wurde, mutete es für die Neuanfänger immer wie ein Abenteuer an. Bislang hatten sie es noch nicht auf die Reihe bekommen, einmal waren sie bis zwei Uhr tatsächlich am Arbeiten gewesen, aber Hilke hatte dann festgestellt, dass sich die Freigeiststimmung, die sie erwartet hatte, mit zunehmender Müdigkeit verabschiedete.

      Auf halber Strecke hielt sie an, weil ihr Telefon klingelte. Ihre Mutter. Noch einmal. Hilke lächelte. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter fehlte. Ihre Mutter fragte zum zweiten Mal an diesem Tag, ob sie nicht doch noch etwas Besonderes einkaufen und mitbringen solle.

      Hilke ergriff die Gelegenheit und blickte auf den Bodensee hinab. Vor der Mainau lag bereits eine große Fähre. Später würde sie rüber nach Meersburg fahren. Der See glitzerte in der aufgehenden Sonne. Im nächsten Sommer wollte sie unbedingt den von der Universität angebotenen Segelschein machen, der theoretische Teil würde jetzt schon im Wintersemester beginnen. Das bedeutete zwar, dass sie noch mehr lernen musste, aber das war es ihr wert.

      Auf dem kleinen Parkplatz neben ihr sah sie ein ausrangiertes Militärfahrzeug. Und wunderte sich. Weshalb wollte jemand ein Auto fahren, das an den Krieg erinnerte? Psychologisch war das … Sie tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. Das war sicher die typische Anfängerreaktion: alles in die eigene Wissenschaft einzuordnen. Ich bin jetzt schon eine Fachidiotin, lachte sie sich aus und verdrängte den Gedanken an Menschen, die die Erinnerung an den Krieg mit Militär-Devotionalien aufrechterhielten. Einen Uropa mit Kriegsvergangenheit, womöglich noch einer SS-Geschichte, mit Waffen oder Helmen oder Uniformen im Keller, mit geschwellter Brust, wenn er von den gefallenen Kameraden sprach, hatte sie Gott sei Dank nicht, stattdessen jedoch Vorfahren, die in dem Konzentrationslager von Dachau gestorben waren.

      Vielleicht hatte sie deswegen unbedingt Psychologie studieren wollen – um herauszufinden, ob Erinnerungen sich womöglich vererben, ob sie sich in das Gedächtnis einprägen. Und, falls ja, wie. Für Hilke war die Beschäftigung mit der Vergangenheit wie ein Abenteuer. Dass dieses bisweilen gefährlich nah an die Gegenwart rückte in letzter Zeit, verdrängte sie meist in eine gut verborgene Schublade.

      3

      8 Uhr bis 9 Uhr

      Enzigs Hände hinterließen auf dem Rednerpult einen dunklen Fleck. Auch nach all den Jahren konnte er seine Nervosität nicht ablegen, wenn er vor Menschen sprechen musste. Selbst während der Zeit an der Universität Liverpool hatte er darin keine Routine gewonnen. Gerade wunderte er sich selbst, dass er diesen Auftrag von der Uni Konstanz angenommen hatte. Aber Nein sagen konnte er eben auch nicht sonderlich gut. Ein Dilemma. Enzig rieb seine Hände. Auf dem Tisch neben ihm stand eine Thermoskanne mit Tee, die Anna ihm mitgegeben hatte. Davor ein Becher, von dem sich der Duft von Orange und Zimt schleichend ausbreitete. Vor ihm sammelten sich die Studenten in den in einem halben Sechseck angeordneten Sitzreihen im Audimax, das Platz für rund siebenhundert Menschen bot. Der Hörsaal war eigentlich zu groß, aber alles andere nicht verfügbar.

      Enzig rückte seine Brille zurecht, schielte auf die Zettel und den dunklen Fleck daneben, rieb seine Finger aneinander und hätte am liebsten zu dem Taschentuch in seiner Jacke gegriffen, um sich die Hände zu trocknen, wohl wissend, dass es nichts bringen würde. Noch einmal kontrollierte er sein Smartphone, das auf dem Tisch bei dem Tee stand. Auf dem Display erschien ein Herz von Anna. Ein flüchtiges Lächeln legte sich auf seine Lippen, dann stellte er noch sein Dienst-Smartphone auf lautlos und ließ es in der Jackentasche verschwinden. Mit seinem Blick folgte er den roten Stangen der Stahlkonstruktion an der Decke. Gepaart mit den roten Türen gaben sie dem Hörsaal etwas Kühl-Kühnes, Industrial Design, ungemütlich, aber vermutlich den Geist anregend.

      Rund fünfzig Menschen hatten sich eingefunden. Die Uhr zeigte acht Uhr fünfzehn. In einer der hinteren Reihen fiel Enzig ein älterer, sehr distinguiert wirkender Herr auf, um den Hals ein Tuch, eine Weste über dem hellblauen Hemd, der Schnauzer sehr gepflegt, und sogar auf die Ferne war die Hochwertigkeit seiner randlosen Brille für Enzig erkennbar. Vielleicht auch eingebildet, weil sie sich so besser ins Gesamtbild fügte.

      Für einen Moment glaubte er, den Mann schon einmal gesehen zu haben, doch dann verschwand das kurze Bild der Erinnerung in dem Nebel, der sich in seinem Kopf ausbreitete. Dabei sollte da doch eigentlich der einstudierte Vortrag sein.

      Der ältere Herr nickte ihm flüchtig zu. Vielleicht doch ein Kollege, überlegte Enzig und erwiderte das Nicken. Der Hauch von Konspiration lag in der Luft, und Enzig wischte das merkwürdige Gefühl rasch beiseite. Schließlich wurde es still, die Türen schlossen sich. Enzig räusperte sich, trat an sein Rednerpult, stützte sich ab.

      »Ein Tatort ist immer ein Raum, den es zu entdecken gilt. Wir müssen uns auf eine Suche begeben, die Grenzen finden, die Grenzen, die einen Ort zu einem Tatort werden ließen, ihn zum auserwählten Ort gemacht haben. Es war der Raum des Täters für eine bestimmte Zeit.«

      Enzig erinnerte sich gut an Sitos Worte, als sie einander gerade kennengelernt hatten. Sitos philosophische Herangehensweise an die Tatortbegehung hatte ihn fasziniert, und er hoffte, diese Faszination nun in seinen Vortrag integrieren und vor allem auf seine Zuhörer übertragen zu können.

      Plötzlich wurde die Tür geräuschvoll aufgestoßen, und alle drehten sich um. Miriam kam herein, hob entschuldigend die Hand, sah Enzig strahlend an und setzte sich in die erste Reihe.

      »Entschuldigung«, sagte sie laut, machte eine lässige Handbewegung und fügte hinzu: »Einfach weitermachen.« Sie grinste Enzig zu.

      Einige lachten, und die nächsten zehn Minuten fielen Enzig erstaunlich leicht. Er erzählte von dem ersten Betreten eines Tatortes, dem Versuch eines Profilers oder der Fallanalytiker, in diesen Raum einzutauchen, wenn man ihn denn gefunden hatte, und im besten Fall noch etwas von der dortigen Atmosphäre, der Stimmung aufzunehmen. Nicht immer einfach sei das, meist sogar regelrecht –

      Weiter kam er nicht. Wieder wurden die Türen aufgestoßen, dieses Mal an beiden Seiten des Auditoriums, und mehrere Männer kamen herein. Sie riefen etwas in barschem Tonfall, das nahm Enzig wahr, noch bevor er sah, dass die Männer allesamt in Uniform und mit Sturmmasken über dem Gesicht bekleidet waren. »Aufstehen!«, schrien die beiden vordersten. »Alle aufstehen!« Tumult, Taschen fielen zu Boden, Schreie.

      »Schnauze«, »Du da, sofort hoch mit dir«, »Und keiner fasst sein Handy an, sonst ist er tot.«

      Enzig stand bewegungslos auf der Bühne, suchte Blickkontakt mit Miriam, konnte sehen, dass die Studenten sich zwischen den Sitzreihen aneinanderzwängten, hörte einen Schuss. Er zuckte zusammen, drehte langsam den Kopf nach rechts, sah, dass einer der Bewaffneten sein Gewehr nach oben hielt – der Schuss war in die Decke gegangen, eine deutliche Warnung. In Windeseile versuchte Enzig, die Situation zu erfassen. Sechs Männer, alle mit Sturmgewehren.

      »He, du da.« Ein Gewehr berührte


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