Still schweigt der See. Tina Schlegel

Still schweigt der See - Tina Schlegel


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nicht auszumachen. Sie waren von kräftiger Statur, allesamt. Vor ihm etwa fünfzig Studenten. Unterdrücktes Schluchzen, Miriam hatte das Mädchen neben sich im Arm. Für einen Bruchteil staunte Enzig über Miriams Kraft trotz ihrer eigenen Vergangenheit, obwohl, schalt er sich, vielleicht kam die Kraft gerade daher. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Eindrücke sammeln, von den Geiselnehmern, Verhalten, Strukturen, Schwächen, Merkmale. Dann die Opfer: Welche waren besonders gefährdet, welche konnten zur Bedrohung werden? Die ersten Minuten entschieden so vieles. Jetzt positionierte man sich, jetzt verrieten sich noch Muster, die später unter dem steigenden Druck nicht mehr klar erkennbar waren. So gab es verschiedene Schutzmechanismen aufseiten der Opfer, um die Situation zu erfassen und zu verarbeiten, manche überfiel die Panik, andere flohen in eine –

      »Los, stell dich ans Pult und lies.«

      Enzig zuckte zusammen. Der Mann, dessen Stimme blechern klang, rempelte ihn an und reichte ihm ein Papier. Enzig rückte seine Brille zurecht. Sein Hals war trocken. Er räusperte sich. In den Duft nach Orangentee mit Zimt mischte sich kalter Zigarettenrauch. Der Mann neben ihm hustete, jetzt roch es auch nach Kaffee und Nebel. Enzig beugte sich zu seinem Mikrofon und überflog die Zeilen.

      Bemüht um einen ruhigen Tonfall, begann er zu lesen.

      »Ihr werdet gleich auf Kommando«, Enzig räusperte sich, »langsam und nacheinander hier nach unten kommen. Eure Taschen nehmt ihr mit. Verhal…haltet euch so ruhig wie möglich, andernfalls schießen wir.«

      Er hielt inne. Er hatte das Gefühl, dass jeder Ton in seinem Hals hängen bleiben wollte, als hätte er kleine Widerhaken.

      »Und haltet eure Hände so, dass wir sie sehen können, und versucht keine krummen Touren. Es läuft ab jetzt alles genau so, wie wir das wollen. Wer sich widersetzt, wird … erschossen.«

      Zweimal verhaspelte er sich, benötigte eine Pause, weil er sich mit dem Atmen verschätzt hatte. Er glaubte, man könnte sein Herz pochen hören. Manchmal reagierte der Schutzmechanismus des Gehirns auf einen Schock, dann nahm man plötzlich etwas ganz Nebensächliches wahr, etwa eine kleine Büroklammer, die frech und rot auf einem Schreibtisch lag. Enzig bildete sich auf einmal ein, die Vanillekipferl von Anna zu riechen.

      »Eure Ta… Taschen gebt ihr … gebt ihr an der Seite ab, eure Smartphones kommen in den Sack. Wer sich wider… widersetzt, wird erschossen.«

      »Anschließend setzt ihr euch hier unten hin. Es wird nicht gesprochen. Wer redet, wird erschossen.«

      Der Mann drängte Enzig zur Seite, griff nach dem Smartphone auf dem Tisch und stieß dabei die Thermoskanne um. Die dampfende rote Flüssigkeit breitete sich über Enzigs Unterlagen aus, färbte sie blutrot. Enzigs Augen blieben für einen Moment daran hängen, Erinnerungen rasten durch seinen Kopf. Analysieren, sagte er sich, objektiv und mit Sachkenntnis. Er war hier der Profiler, der Polizist. Er musste für Kontrolle und Ordnung sorgen.

      »Verhaltet euch alle ruhig«, rief er seinen Studenten zu. »Wir werden diese Situation …« Der Gewehrknauf landete auf seinem Kinn, und Enzig fiel zu Boden.

      ***

      Auf dem Fahrradweg von Egg nach Konstanz traf Sito keinen einzigen Menschen. Gerade als er sich darüber wundern wollte, klingelte am Stadtrand von Konstanz sein Handy. Er hielt auf dem Parkplatz eines kleinen Blumenladens. Karl Zimmermann, der für Internetkriminalität zuständig war, war am Apparat. Das war eigentlich nicht die Zeit des Kollegen, der gern nachts im Büro war.

      »Karl, so früh schon bei der Arbeit?«, fragte Sito erstaunt und betrachtete die Auslage in dem Geschäft. Überall Vorschläge für eine schöne Herbstdeko – Pilze aus Holz, Hirsche aus Porzellan, Kränze mit diesen orangen Lampenschirmen, die Miriam im Garten sammeln würde, und Kürbisse. Manchmal hatte er das Gefühl, dass die Jahreszeiten im Kopf anfingen.

      »Noch, Paul, ich bin noch bei der Arbeit. Ich hab hier was, das gefällt mir nicht«, sagte Zimmermann. »Ich plädiere für eine außerordentliche Sitzung …«

      »Ist gut«, sagte Sito. »Ich komme gleich bei dir vorbei.«

      Wenig später stellte Sito sein Rad in den Fahrradständer vor dem Präsidium am Benediktinerplatz und betrachtete den vollen Mülleimer an der Ecke. Wie kamen die Bierflaschen hierher? Auch das Graffitizeichen an der Blechumrandung war neu. Er konnte das Zeichen nicht entziffern, vermutete aber einen Zusammenhang zu den beiden Flaschen in der Tonne.

      »Guten Morgen.« Marc Busch schwang sich ebenfalls vom Fahrrad. »Endlich wieder Sonne. Ich dachte, der Nebel holt uns dieses Jahr noch früher ein. Wie geht’s daheim?«

      Sito nickte. »Schickes Rad. Neu?«

      Busch, der augenscheinlich daran gewöhnt war, dass Sito wenig Privates von sich gab, bejahte nicht ohne Stolz. »Aber nicht freiwillig. Mein altes wurde mir geklaut.« Er sperrte sein Rad zweimal ab, dann stellte er sich neben Sito und blickte zum Mülleimer hin. »Merkwürdig.«

      »Liegt heute etwas an?«, fragte Sito seinen langjährigen Partner.

      Busch zuckte die Schultern. »Das Übliche. Die Fridays-for-Future-Demo und ihre Gegner, also Hoffnung und Engagement auf der einen Seite und Ignoranz und Borniertheit auf der anderen. Ich kenn mich da langsam nicht mehr aus mit den Menschen.«

      Sito schluckte. Es passte zu seinen Gedanken am Morgen, zu jenen, die ihn mit Albinonis Adagio schleichend heimgesucht hatten. Der Großteil der Menschen wehrte sich mit aller Macht gegen die notwendige Veränderung, zu lange verwöhnt vom technischen Fortschritt, angetrieben von der Sucht nach Optimierung und Bequemlichkeit.

      »Ich glaube, das gibt noch mal ein ganz böses Erwachen«, murmelte Busch und wandte sich dem Haupteingang zu. »Komm, wir schauen mal nach Roman. Der ist doch bestimmt …« Er hielt inne. »Ach, der hat heute ja seinen Vortrag an der Uni.«

      »Ja, hat er, und Anna wird froh sein, wenn das abgeschlossen ist.« Sie mussten beide lachen. »Ach, Karl hat mich eben angerufen. Er bat um ein Treffen. Irgendetwas muss passiert sein im Netz. Es klang dringlich.«

      »Ja, ich weiß, wir können gleich zusammen zu ihm.«

      Als sie wenig später den Aufzug betraten, gesellte sich im letzten Moment noch ihre Sekretärin Rosa Eckert dazu.

      »Guten Morgen, Herr Dienststellenleiter«, sagte sie und zwinkerte Sito zu. »Zur Feier des Tages haben wir noch mal Sommer. Ich sag Ihnen, wir sind die letzten Tage schon wieder in den Graumodus verfallen in Gaienhofen drüben.«

      »Drüben?«, hakte Busch nach.

      Rosa lachte. »Wie soll ich sagen? Hinterm See gleich links?«

      Busch hob die Hand in die Höhe. »Also ich würde ja drunten sagen, so vom Gefühl her, weil ihr ja im Süden –« Er wandte sich an Sito. »Was meinst du, Paul?«

      Sito schüttelte grinsend den Kopf. »So viel Philosophisches am Morgen überfordert mich.«

      »Himmel«, Busch schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Paul, das hab ich glatt vergessen. Gratuliere. Dienststellenleiter, wurde auch Zeit.«

      Sito nickte. »Es ändert nichts. Bloß nicht, bitte.«

      »Nein, nein, keine Sorge«, lachte Rosa und legte Sito eine Hand auf den Arm. »Ich bin und bleibe die Dienstälteste und schmeiße den Laden. Apropos, ich bin bei den Demos heute wieder dabei, das geht doch in Ordnung, oder?«

      Sito nickte und schob seine Hände in die Jackentaschen. Plötzlich legten sich seine Finger um die Tüte, in der sich die blaue Schleife befand. Er zog sie heraus und hielt sie in die Runde. »Könnt ihr damit irgendetwas anfangen?«

      »Eine blaue Schleife«, kommentierte Busch.

      Rosa hob fragend die Hände.

      »Zeus hat sie gefunden. Sie war an einen Ast im Wald gebunden, kurz vor der Mainau.«

      Sie erreichten den zweiten Stock und gingen jeweils zu ihren Zimmern. Sitos Raum lag am weitesten entfernt. Auf dem Weg nahm er sich einen Kaffee aus einem der Automaten mit, die eigentlich nur noch der Nostalgie


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