Still schweigt der See. Tina Schlegel

Still schweigt der See - Tina Schlegel


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war grenzenlos. Gerade fuhr er mit der Hand über das Schachbrett. Auf dem Weg zu seinem Springer stieß er gegen die verbliebene Dame, sie zitterte, strauchelte und fiel. »Hoppla«, entfuhr es ihm. Er grinste. »Um die Moral also?«

      »Ich will sehen, wie sehr sie sich anstrengen, bessere Menschen zu sein.« Er machte eine Pause, hob sein Glas. »Was sagst du dazu?«

      Es blieb eine ganze Weile still. »Bessere Menschen?«, fragte der andere schließlich und paffte an seiner Zigarre, sein Glas ließ er stehen. Der winzige Leuchtstreifen unter dem weißen Ascheturm glomm auf. »Gemessen woran?«

      Das versetzte ihm trotz allem einen Schlag. Seit Jahrzehnten saßen sie hier einander gegenüber, und plötzlich war er ihm fremd. »Gemessen am Willen zur Gerechtigkeit natürlich.«

      »Ach so, ja, klar, natürlich.« Die Griffin’s in der einen, das Cognacglas in der anderen Hand, ein breites Lächeln im Gesicht. »Mein Gott, haben wir uns voneinander entfernt. Wille zur Gerechtigkeit? Den gibt es nicht. Schau dich um. Auch die Gutmenschen bringen ihre Schäflein ins Trockene. Wenn wir wollen, regieren wir alsbald. Gerechtigkeit ist kein absoluter Wert, sie ist das, was wir etablieren für die kleinen, braven Hirten.«

      Er öffnete den Mund, aber die Antwort blieb ihm im Hals stecken. Sein Blick fiel auf das Spiel vor ihm, das in drei Zügen verloren wäre, auf die liegende Dame, auf die Bauern und Läufer und Springer, die sich abmühten, das Unaufhaltsame hinauszuzögern, die Türme, geduldig warteten sie auf ihr Ende. Der König, die mächtigste, doch unbeweglichste Figur, dieser König war er – und wollte es nicht mehr sein.

      »Wir können ja wetten«, sagte er, erhob wieder sein Glas und wartete. Er fühlte sich erstarkt. Er würde nicht verlieren, er würde beweisen, dass es den Willen zur Gerechtigkeit gab. Endlich erhob der andere sein Glas. Das Klirren der Gläser klang wie ein Glockenläuten aus weiter Ferne. Dann begriff er, dass tatsächlich die Glocken läuteten. Es war Mitternacht.

      Teil 1

      Der Aufmarsch

      1

      6 Uhr bis 7 Uhr

      »Meinst du wirklich?«, fragte Miriam und legte den Kopf schief. Sie saß vor ihrer Leinwand, dort ruhte der See vor Gaienhofen. Die Landschaft auf dem Bild war in Eiseskälte gehüllt, in scheinbar randloses Weiß. Miriam trug dieselbe Sehnsucht in sich wie Monet, der einmal äußerte, er sei traurig darüber, dass er nicht die Luft zwischen sich und dem Objekt malen könne. Von der Luft zwischen ihr und dem See einmal ganz abgesehen, war sie dennoch nicht zufrieden mit ihrem Bild. Etwas war abwesend und doch da. Etwas, das sie in jenen Tagen in Gaienhofen empfunden hatte. Sie legte den Kopf von der einen Seite zur anderen, doch es half nichts.

      »Fehlt nicht etwas?«, fragte sie jetzt und drehte sich endlich zu Sito um, der hinter ihr gestanden und lange auf das Gemälde geschaut hatte.

      Sanft legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht ein Blickfang?«, sagte er und streichelte ihren Nacken.

      Sie legte die Stirn in Falten. »Es ist ein Winterbild. Aber das meine ich auch gar nicht. Was denkst du, wenn du das Bild ansiehst?«

      »Kalt«, sagte er und zog die Hand zurück. »Es ist kalt.«

      »Gut«, sagte sie, und ihr Gesicht entspannte sich. »Das ist schon mal gut. Es soll kalt sein. Es ist Winter. Was meinst du mit Blickfang?«

      »Irgendetwas.« Sito ging einen Schritt rückwärts.

      Seit Tagen arbeitete Miriam jetzt an ihrem Werk. Die Ausstellung war in zwei Wochen, und Miriam war noch immer nicht zufrieden. »Ich glaube, du brauchst etwas, das Spannung erzeugt und die Kälte durchbricht.«

      Miriam zog die Augenbrauen hoch. »Spannung? Irgendetwas?«

      Sito lachte und fuhr sich mit der Hand über den Kopf. »Himmel, Süße, du forderst Kritik, und ich versuche, mir hier was aus den Fingern zu saugen, dabei finde ich deine Bilder längst großartig. Ehrlich.«

      »Ehrlich?« Sie zwinkerte ihn an.

      »Ja, natürlich.«

      Miriam stand auf, nahm seine Arme und legte sie sich um die Hüften, dann umarmte sie ihn. »Ehrlich?«, fragte sie noch einmal flüsternd und küsste ihn, bevor er antworten konnte.

      ***

      Roman Enzig saß an seinem Schreibtisch und starrte auf die Uhr über der Anrichte. Es war noch viel zu früh am Morgen. Aus den Augenwinkeln konnte er das Bett sehen. Anna drehte sich gerade auf die Seite und tastete mit der Hand nach seinem Kopfkissen.

      »Roman?«, rief sie und hob leicht den Kopf.

      Er liebte sie so verschlafen, die Haare verstrubbelt. Als er sie kennengelernt hatte, trug sie eine strenge Hochsteckfrisur und einen neuen Pony, den sie sich immer aus dem Gesicht strich, weil er noch so ungewohnt war.

      »Roman? Bist du am Schreibtisch eingeschlafen?«, fragte sie, und ihre Stimme kratzte noch leicht wie jeden Morgen vor dem ersten Kaffee. Er würde ihr wie immer einen aufsetzen und bringen. Er war der Frühaufsteher, er schätzte die ruhigen Morgenstunden am Schreibtisch, wenn die ganze Stadt noch schlief und er nebenbei Anna beobachten konnte, wie sie langsam aufwachte und nach ihm suchte.

      »Roman, beobachtest du mich wieder? Kannst du bei der Gelegenheit nicht Kaffee …?« Sie vergrub ihr Gesicht im Kissen. Er konnte ihr ersticktes Lachen hören.

      »Haha«, machte er mit gespieltem Ärger und stand auf. Neben dem Durchgang zum Schlafzimmer hing ein raumhoher Spiegel. Jetzt stand Enzig also sich selbst gegenüber. Anna sagte immer, dass sie ihn genau so am meisten liebte – wenn es so wirkte, als wäre seine eigene Körpergröße immer wieder eine Überraschung für ihn. Gerade wusste er genau, was sie meinte. Das Schlaksige habe sie sofort gemocht, hatte sie gesagt, schon bei ihrer ersten Begegnung, im letzten Jahr bei dem Brand an der Universität Konstanz.

      Ja, Enzig schlackerte gerade mit seinen Armen neben seinem dünnen Körper, ja, so musste das wohl sein. Sie hatte offensichtlich ein Herz für Randgruppen. Er grinste und nickte seinem Spiegelbild zu. »Gut gemacht«, sagte er zu sich.

      Eineinhalb Jahre kannten sie sich jetzt. Was da alles passiert war. Inzwischen waren sie verheiratet und versuchten, schwanger zu werden. Sagte man das wirklich so? Er lachte, nein, das würde sie nie laut sagen.

      »Komm zu mir, Liebster«, sagte sie und hob die Bettdecke an.

      Roman schob seine Brille zurecht, sah auf die Uhr, seufzte und schüttelte den Kopf. »Es tut mir wirklich leid, Anna, aber es geht nicht. Du weißt doch, mein Kompaktseminar heute an der Uni und …«

      »Herrje, Roman, mach dich doch nicht verrückt. Du wirst einen Vortrag über Tatortanalyse halten, hab ich recht? Das ist dein Spezialgebiet, und vor dir sitzen nur Studenten.«

      »Aber vielleicht ja auch ein paar Kollegen«, verteidigte Roman seine Nervosität.

      »Glaub ich nicht, aber gut, dann stehe ich auf und schau, was unser Kühlschrank so hergibt.« Im Vorbeigehen streichelte sie seine Wange und flüsterte augenzwinkernd: »Was bin ich froh, wenn du wieder in den harten Alltag des Kommissariats zurückkehrst.«

      »Morgen ist der Spuk vorbei, versprochen, ich nehme nie wieder so einen Auftrag an.« Roman Enzig sah seiner Frau sehnsüchtig hinterher, dann ging er wieder zu seinem Schreibtisch und arbeitete an seinem Vortrag. Er würde den ganzen Tag mit einer Gruppe Studenten und sicher einigen anderen Gästen über die erste Tatortbegehung sprechen, darüber, wo wichtige Erkenntnisse liegen konnten und wie man ein Gefühl für Täter und Räume entwickelte.

      Roman Enzig war vor zwei Jahren als Profiler nach Konstanz geholt worden, weil hier ein Fallanalyseteam rund um die Hauptkommissare Paul Sito und Marc Busch aufgebaut werden sollte. Sie hatten keinen guten Start gehabt, auch weil Enzig von Beginn an ein schlechtes Gewissen Sito gegenüber gehabt hatte. Schließlich hatte er diese Stelle bei der Polizei auch deshalb bekommen, weil er Sito im Auge behalten und Dieter Hohenfels von der internen Ermittlungsaufsicht Bericht erstatten


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