Still schweigt der See. Tina Schlegel

Still schweigt der See - Tina Schlegel


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ein gutes Team.

      Bei der Erarbeitung dieses Vortrages hatte er sich oft an Gespräche mit Sito erinnert.

      Während in der Wissenschaft nur analysiert wurde, wie sich der Täter im Raum verhält, suchte Sito nach den Eigenschaften des Raumes, die ihn zum Tatort werden ließen. Die Raumauswahl sei ebenso charakteristisch wie die Wahl der Waffen. Auch sie lasse Rückschlüsse auf den Täter zu. Eine Platzierung einer Leiche in der Mitte eines Raumes etwa symbolisiere den Versuch, auch über die Tat hinaus den Raum zu dominieren. Also müsse der Täter zu dem Raum eine Verbindung haben.

      Enzig überlegte, wie man das wissenschaftlich noch weiter ausbauen könnte. Er blätterte in seinem bereits erschienenen Buch »Die Räume der Täter und was sie uns verraten« und notierte ein paar Zahlen an den Rand. Er wollte einige Akten einsehen, die hierfür vielleicht interessant waren. Sobald seine Dozententätigkeit wieder abgeschlossen war, würde er all seine Notizen zu einem weiteren Buch ausarbeiten.

      Jetzt hörte er Anna mit der Kaffeemaschine hantieren. Verflixt, er war zu langsam.

      2

      7 Uhr bis 8 Uhr

      Der Herbst kündigte sich langsam, aber stetig in den Gärten ringsum an, und die Reste der Nacht glitten mit der Sonne hinauf in den Tag. Sito winkte im Vorbeigehen seiner Nachbarin und wollte schnell in Richtung See laufen, wo es derzeit noch still war, doch seine Nachbarin erwiderte beharrlich seinen kurzen Gruß und kam ein paar Schritte auf den Gartenzaun zu, ein Kopftuch auf ihrem grauen Haar.

      »Der Herr Hauptkommissar, wie schön, dass ich Sie treffe. Und das liebe neue Hundle is au dabei, ach, meiner ist jetzt schon eine Woche unter der Erde, wissen Sie, das ist hart.«

      »Das tut mir leid«, sagte Sito, »das wusste ich nicht.« Er hatte die alte Frau mit ihrem Dackel im letzten Sommer öfter an seinem Garten vorbeilaufen sehen. Immer hatte sie angehalten, und er war sich nie sicher gewesen, ob sie sich oder dem Hund eine Pause gönnen wollte. Gemeinsam alt werden, wissend, dass der Sand in der Uhr unaufhörlich rann.

      »Er war ja schon alt, ging einfach nicht mehr.« Sie klopfte sich auf die Hüfte. »Ich bin es ja auch, aber ich muss halt. Immer weiter müssen wir Alten, immer weiter.«

      Sito nickte beklommen. »Hat er denn ein schönes Grab bekommen?« Er dachte an seinen früheren Hund, Pollux, ihn hatte er vor zwei Jahren am Purren oberhalb von Litzelstetten beerdigt, heimlich, weil er ihm diese Aussicht auf den See mit auf den Weg geben wollte. Mit auf den Weg? Wohin? Thanatos, der Gott der Toten, wird es wissen, er kannte nichts anderes. Zwei Jahre schon wieder, dachte Sito. Zeus stupste mit seiner Schnauze sanft an seine Hand, und Streuner, wie er immer noch hieß, grummelte zaghaft. Beide wollten sie endlich weiter.

      »Aber gewiss hab ich ihn beerdigt«, sagte die Frau und zeigte nach rechts unter die Tanne. Dort stand ein Gartenzwerg mit einem Hund. Davor ein kleines Kreuz auf dem kaum sichtbaren Hügel. »Mein Schwiegersohn hat mir geholfen. Sie waren nicht da, da musste er.« Sie lächelte. »Die junge Frau, sie wohnt wohl jetzt bei Ihnen?«

      Sitos Blick hing noch an dem Gartenzwerg, der so breit lachte. Der Hund an seiner Seite war ein Deutscher Schäferhund. Ob dem Dackel das gefallen würde? Sito musste sich ein Grinsen verkneifen. »Ja, die junge Frau wohnt jetzt bei mir. Miriam heißt sie.«

      »Weiß ich doch, die Miriam, die Malerin, eine schöne Frau ham Se da. Und nett isse auch. Hat mir scho a paarmal mit den Einkäufen geholfen.« Sie nickte, als hinge sie gerade dieser Erinnerung nach. »Jaja, das ist gut, dass wieder eine Frau bei Ihnen wohnt. Wirklich, das freut mich. Soll keiner allein sein im Leben.« Ihr Blick ruhte auf dem Grab, und Sito wäre gern geflüchtet. »Im Alter schon gar nicht.« Sie lachte. »Is Ihnen scho mal aufgefallen, dass man da einen Unterschied macht? Man is im Leben net gern allein, und dann kommt das Alter, wie so eine – wie sagt man? – Grauzone zum Tod hin.« Ohne eine Reaktion von Sito abzuwarten, drehte sie sich um und hob im Gehen die Hand zum Gruß.

      Ihr Gang kam Sito langsamer vor als noch vor einigen Wochen. Sofort waren seine Gedanken an den schönen Herbsttag verflogen. Er würde ein Auge auf sie haben müssen in der nächsten Zeit. Ob Miriam von dem Tod des Dackels wusste?

      Zeus zog an der Leine, Streuner lief wie immer ohne. Bei seinem letzten Besitzer in Gaienhofen hatte er eine Leine nicht kennengelernt. Nie hatte Streuner seine neue Familie in Frage gestellt, er war einfach mitgegangen, als habe er sich nahtlos in den Lauf der Dinge gefügt. Zeus hechelte ungeduldig. Er wollte endlich an den See und dann auf den Waldweg nach Litzelstetten abbiegen. Sito maßregelte sich, das nicht hinzunehmen, und rief Zeus zur Raison. Umgehend reagierte sein weißer Schäferhund mit einem ergebenen Blick zu seinem Herrn und dann einem sehnsüchtigen in Richtung Streuner. Der schien ihm aufmunternd zuzuzwinkern.

      »Verbündet euch ruhig, hilft nichts«, scherzte Sito und streichelte Zeus über die Nase.

      Es war wenig los zu dieser frühen Tageszeit. Auch wenn der Kalender schon den Herbst anzeigte, so wohnte diesem Freitag noch ein Restsommer inne. Die Touristen für die Mainau würden frühestens in einer Stunde anreisen, und ab Mittag dann zogen wieder ein paar hundert Menschen der Fridays-for-Future-Bewegung durch die Stadt. Sito würde sich wie schon so oft fragen, weshalb nicht die ganze Stadt dabei war, wo es doch um ihrer aller Zukunft ging.

      Da fiel ihm ein: Heute würde es anders sein. Es war der Tag des Klimaschutzgipfels. Es gab eine große Kundgebung mit geladenen Gästen. Zwar hatte Greta Thunberg nicht zusagen können, doch kamen Sibylle Hundhammer, die deutsche Greta, sowie einige Spitzenpolitiker der Grünen, um vor den Demonstranten zu reden. Allerdings hatte sich auch ein Spitzenpolitiker der AfD, Michael Wertheim, angekündigt, er würde zur großen Gegenrede ansetzen, und Sito revidierte seine Einschätzung, dass nur ein paar hundert Demonstranten vor Ort sein würden – es kamen gewiss wesentlich mehr.

      Weil es vor Kurzem schwere Auseinandersetzungen gegeben hatte, waren sie in Konstanz alarmiert. Seit Wochen hatte er die Nachrichten des Planungsstabes mitverfolgt und eben für den Moment prompt das Datum vergessen. Miriam und ihre Bilder hatten ihn abgelenkt. Ja, er führte wieder ein Privatleben, ging zur Arbeit, aber abends auch wieder nach Hause. Er war zurück im Leben.

      Sito löste die Leine von Zeus, der sofort fröhlich mit Streuner losrannte. Von seiner Verletzung war im Moment kaum etwas zu sehen.

      Freitag also. Dazu ein schöner Sonnentag. Vorhin, als er vor dem Winterbild von Miriam gestanden hatte, waren seine Augen über das Bild und dann zu dem großen Fenster gewandert, von dem aus man jetzt in dieser Jahreszeit wieder ein Stück des Sees sehen konnte. Er hatte das Blau des Sees und das sich bunt verfärbende Laub der Bäume genossen. Im Sommer, wenn sie dicht belaubt waren, versperrten sie die Sicht auf den See, was nicht schlimm war. Manchmal lag in der Unsichtbarkeit auch ein Zauber.

      Miriams Winterbilder waren von einer solchen Einsamkeit beseelt, dass ihm kalt geworden war. Sie hatte bei ihrem Malkurs im Otto-Dix-Haus in Hemmenhofen angefangen, mit Öl zu malen. Ihre Lehrerin meinte, das müsse ihr liegen, und sie hatte recht behalten. Die ganze erste Jahreshälfte hatte Miriam nichts anderes getan, als ihre Skizzen von ihren Urlaubstagen zwischen Weihnachten und Silvester auf der Halbinsel Höri auf Leinwände zu übertragen – immer waren es strahlend weiße Wüsten, Baumgerippe, abgeblätterte Werbetafeln. Den Sommer über hatte sie dann gemalt. Mit Ölfarben ließ das Licht sich noch besser einfangen, die Sonne, die hin und wieder diesen Jahrhundertwinter aufgebrochen hatte, einen Winter, der Konstanz und Umgebung zeitweise lahmgelegt hatte.

      Sito war froh, dass bald Miriams Ausstellung war, er hoffte, sie würde dann wieder anderes malen, Bilder mit bunten Farben. Er wollte keine Winterbilder mehr sehen.

      Plötzlich blieb Zeus stehen. Er witterte, winselte kurz, dann sah er zu Sito.

      »Was ist denn los?« Sito lief zu seinem Hund, dessen Blick zum Wald gerichtet war. Vielleicht ja ein Wolf, schoss es Sito durch den Kopf.

      »Hast du was entdeckt? Ein Eichhörnchen?«

      Sito versuchte, durch die Bäume hindurch etwas zu erkennen, aber da war nichts.

      »Komm, Zeus, das ist längst weg.«

      Aber


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