Still schweigt der See. Tina Schlegel

Still schweigt der See - Tina Schlegel


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Hundes einzunehmen – und dann sah er es: Bei einem Baum ungefähr in der dritten Reihe war ein hellblaues Band um einen Ast gebunden. Es flatterte im Wind, und Sito konnte nicht sagen, was daran ihn verstörte.

      »Das hast du gesehen?«, fragte er seinen Hund und ging dann langsam zu dem Baum. Das Band war jetzt genau auf Augenhöhe. Es war sauber um den Ast gewickelt, zweimal, und dann mit einer Schleife über einem einfachen Knoten geschlossen. Die Schleife hing vom Ast herab, die Bänder wehten im Wind.

      Sito wusste nicht, weshalb, aber er nahm sein Smartphone aus der Tasche und machte Aufnahmen von dem Ort und dem Band. Anschließend fischte er eine Tüte aus seiner Tasche, die er für Zeus dabeihatte, griff hinein und löste so mit geschützten Händen die Schleife und den Knoten. Er zog die Tüte von seiner Hand und über das blaue Band und schob es in seine Tasche.

      »Gut gemacht«, lobte er seinen Hund.

      Zeus rannte vergnügt von einer Seite des Weges zur anderen, immer begleitet von Streuner. Ein Jogger begegnete ihnen, grüßte, und Sito erkannte in ihm einen der Topstars vom Ruderclub Konstanz. Er hatte knapp die Nominierung für das Olympiateam verpasst. Zwei Frauen auf Rädern lachten, als die Hunde ihnen Platz machten, und wenig später kamen zwei Familien mit Kinderwagen und Laufrädern – Letztere wurden jeweils vom Vater getragen – und einigen quietschenden Kindern. Ganz schön früh unterwegs, dachte Sito. Grellbuntes Kinderlachen. Zeus hielt den Kopf gesenkt beim Vorbeilaufen, am liebsten hätte er sich wohl die Ohren zugehalten. Da musste nun Sito lachen.

      Das blaue Band indessen ging ihm nicht aus dem Kopf. Was hatte er als Erstes gedacht? Etwas Beunruhigendes. Eine Schleife an einem Ast. Hatte jemand das Band gefunden und dort angebunden? Damit es diejenige, die es verloren hatte, auch wiederfinden würde? So in Augenhöhe, ja, das könnte eine einfache Erklärung sein, dachte Sito. Er hätte es einfach hängen lassen sollen.

      Als er gegen acht zu Hause ankam, war Miriam bereits fort. Stimmt, erinnerte sich Sito, sie wollte noch einmal nach Gaienhofen und ein paar Eindrücke sammeln, die sie im Winter vielleicht verpasst hatte.

      Unschlüssig stand er in der Küche, starrte aus dem Fenster und beobachtete die beiden Hunde. Streuner tat Zeus sichtlich gut, gleichwohl fühlte Sito immer einen Stich, als trüge dieser Hund die Vergangenheit wie ein Schild mit sich herum. Sito wischte die Erinnerung beiseite und schluckte das Unwohlsein hinunter.

      Ohne weiter darüber nachgedacht zu haben, tat er etwas Seltsames. Jedenfalls stufte er es schon während seiner Schritte zum CD-Player und seines zielsicheren Griffs in das CD-Regal als seltsam ein: Er legte Albinoni ein, dessen Adagio in g-Moll seine Klänge kurz darauf im Wohnzimmer entfaltete. Sito musste sich langsam in den Sessel neben dem Regal setzen. Die Musik hatte nichts an ihrer magischen Anziehungskraft eingebüßt, spürte er und legte sich eine Hand auf den Mund. Was hatte ihn bewogen, sie ausgerechnet heute aufzulegen? Welche Erinnerung oder Ahnung?

      Seine Gedanken wanderten zu jener blauen Schleife im Wald, die nun im Flur in seiner Tasche ruhte.

      Einsamkeit.

      Abschied.

      Blau.

      ***

      Sein Spiegelbild schien zu wanken. Er rief sich zur Haltung. Prüfend hielt er sich die Krawatte an den Hemdkragen. Nein, dachte er, das passte nicht. Auch das Hemd gefiel ihm nicht mehr. Er begriff nicht, weshalb seine Kleiderauswahl heute eine Rolle spielte, dennoch war es so. Seine Frau schlief noch. Er konnte ihren Atem hören, wie er ihn seit nun einundfünfzig Jahren hörte. Bedrohlich klang es in ihm nach. Die Bettdecke hob und senkte sich, Atem floss hinein und hinaus und bewegte das, was ihn nur mehr entfernt an seine Frau erinnerte, ein leises Nachschnauben. Seine Nasenflügel bebten. Er konnte sie förmlich riechen. Dieser Geruch, der sich in all der Zeit verändert hatte, ihm von Zeit zu Zeit heimlich in die Nase stieg, ihn belästigte. Wenn sie ihn beim Essen ansah, dann meinte er, in einen Spiegel seiner Gedanken zu blicken. Wenig außer Verachtung las er dort. Sie aber überschüttete ihn mit Aufsicht und Fürsorge, sodass er beinahe erstickte.

      Er legte auch die dritte Krawatte zur Seite und zog das gestreifte Hemd wieder aus. Stattdessen griff er nach einem hellblauen, zog eine Anzugweste darüber und band sich einen passenden Schal um den Hals. Ja, dachte er zufrieden, so sah einer aus mit einem Vorhaben. Das sah nach Tatendrang aus, nach Esprit und nicht nach bloßer Pflichterfüllung.

      Früher, wenn er zum Gericht gegangen war, dann hatte er sich genauso gefühlt. Er fuhr sich über die tiefen Falten auf seiner Stirn. Einige davon verdankte er seiner Aufgabe als Richter, nicht weil sie ihm Sorge bereitet hatte, vielmehr, weil er sich stets den Anschein gegeben hatte, ernst und aufrichtig zu sein – den Menschen gegenüber wollte er weise und vor allem unfehlbar erscheinen. »… und legte demutsvoll die Stirn in Falten …«, hatte einmal in einem Porträt über ihn gestanden. Demutsvoll. Kaum ein Begriff traf weniger auf ihn zu. Demut empfand er ausschließlich angesichts eines unanfechtbar verkündeten Urteils, wenn er die bewundernden Blicke im Raum sah.

      Er wusste nicht genau, was heute passieren würde und ob ihm das bis zuletzt die erhoffte Ablenkung bringen würde. Ablenkung, vor allem aber auch Erlösung.

      Sie hatten das Gespräch nicht weitergeführt an jenem Abend. Jeder war seinen eigenen dunklen Gedanken nachgehangen. Zumindest hatte er das Gefühl, dass es durchweg dunkle Gedanken gewesen sein mussten. Auf dem Schachspiel war seine Dame gefallen, unabsichtlich. Er war nicht umhingekommen, für einen Moment ein Omen darin zu sehen. Der unbewegliche König, die gestürzte Dame …

      Vor einer Woche hatten sie das letzte Mal zusammengesessen, und ihm war klar, dass ein weiteres Spiel keinen Sinn mehr machen würde. Ihre Abende waren gezählt, das Ritual war aufgelöst in sinnloser Banalität. Ein letztes Mal hatten sie den Wein geteilt, die Zigarren gewählt, eine Weile in den großen Sesseln gesessen mit Blick in den Garten und auf das gegenüberliegende Ufer der Reichenau, wo immer ein paar Lichter durch die Nacht funkelten.

      Das Tuch an seinem Hals saß zu fest. Er lockerte es, löste es dann ganz und legte es sich noch einmal um den Hals. Irgendwann, so dachte er, würde er einfach in den See gehen. Das Wasser um seine Füße spüren, die Reichenau im Blick, und dann nicht mehr anhalten, einfach ins Wasser gehen wie so mancher vor ihm. Auch Tschaikowski hatte es versucht, sich aber nur einen Schnupfen geholt. Erst die Cholera hatte ihm endlich die Erlösung gebracht. Der Idiot hatte das verseuchte Wasser einfach so getrunken.

      Plötzlich überkam ihn große Lust, Tschaikowski zu hören. Was würde er jetzt auflegen? Natürlich die vierte Sinfonie in f-Moll. »Fatum, eine Kraft des Schicksals, die uns verbietet, glücklich zu sein …«

      Schicksal … Die zweite Frau, sie hatten sie nicht gefunden.

      ***

      Aus der Luft betrachtet, sah die Universität Konstanz mit ihren roten, blauen und gelben Feldern aus wie ein buntes Puzzle, das jemand humorvoll über einen Hügel verteilt hatte. Die Mainau fügte sich unterhalb gelegen schön ins Bild. Zoomte man die Ansicht etwas heran, verschwand zwar die Mainau aus dem Blickfeld, dafür konnte man aber die bunten Pyramiden des Glasdaches über dem Foyer erkennen, das Otto Piene 1972 gebaut hatte. Als die Bauherren am 21. Juni 1966 den Grundstein legten, ahnten sie sicher nicht, welche Karriere die Universität nehmen sollte.

      Hilke schmunzelte, noch immer stolz, wenn sie den Weg von der Bushaltestelle unterhalb der Universität auf Höhe der Mainau antrat. Sie kam aus Litzelstetten. Da wäre der Weg bis in die Stadt Konstanz, um dort auf die Linie 9 umzusteigen und dann direkt vors Hauptportal fahren zu können, zwar bequemer, aber eben auch wesentlich länger. Also nahm sie diese Strecke, die sie von ihrem Zuhause in einer WG in wenigen Minuten bis zu dieser Haltestelle brachte. In zehn Minuten lief sie den Hügel hinauf und zu einem Seiteneingang in die Universität.

      Heute war dieser Weg besonders schön. Bunte Blätter verteilten sich auf dem Weg, das knirschte so schön und erinnerte Hilke an die Spaziergänge mit ihrer Mutter früher. Die Vögel freuten sich über den Sonnentag nach ein paar Herbsttagen und zwitscherten vergnügt. Sie selbst freute sich auf ihr zweites Semester an der Eliteuniversität, das Mini-Harvard am Bodensee, wie es in einer Zeitung gestanden hatte. Ihre Eltern zogen sie immer ein wenig damit auf,


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