Still schweigt der See. Tina Schlegel
Gefahr *** Eilmeldung *** Die Polizei ist noch zu keiner Stellungnahme bereit *** Eilmeldung …«
»Da haben Sie es!« Auweiler war aufgesprungen und stützte die Hände in die Seiten. Sein Hemd war an einer Seite aus der Hose gerutscht und hing über den Bund. »Die vermuten ja schon selbst, dass wir das Klimatreffen absagen.«
Jäger hob die Hand. »Wir klären das mit dem Innenminister.«
»Wenn wir jetzt mit einer Absage kommen, dann lösen wir womöglich ein riesiges Chaos aus«, sagte Sito.
Der Bürgermeister legte seine Hände in den Nacken und seufzte. »Mir war dieses Ausmaß der Bedrohung nicht bewusst. Tun Sie das Nötigste. Ich will nicht, dass ausgerechnet hier …« Er schluckte den Rest herunter, schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. »Ich will, dass wir die Sicherheit der jungen Leute garantieren können. Ich bin hier der Bürgermeister. Hier ist kein Platz für Gewalt.«
»Dann sind wir uns einig. Ich spreche mit dem Innenminister, wir müssen umgehend eine Pressekonferenz geben, damit die Leute nicht aus den sozialen Netzwerken informiert werden. Der Terrorverdacht bleibt in diesen vier Wänden. Sie, Zimmermann, beobachten das weiter. Auch wenn wir hier zum Warten verurteilt sind, müssen wir tun, was wir tun können. Und dabei gilt: Ein Kollaps in der Stadt ist unter allen Umständen zu vermeiden, haben wir uns verstanden?« Er stand vor ihnen, aufrecht und mit felsenfester Überzeugung nickte er in die Runde: »Wir schaffen das, meine Herren, wir schaffen das.«
Sito bewunderte Jäger in diesem Moment. Er wusste von seiner Krankheit, als Einziger, von der Sorge, wann das Zittern Oberhand über seinen Körper erlangen würde. Jäger stand auf und trat ans Fenster, um zu telefonieren. Sito ließ die anderen gehen und wartete. Als das Telefonat beendet war, ging er zu ihm.
»In zehn Minuten unten im Presseraum. Das Fernsehen ist unterwegs«, erklärte Jäger, den Blick nach draußen gerichtet. »Ich will Sie dabeihaben.« Er wandte sich an Sito. »Weshalb wollen die Leute diese Art der Öffentlichkeit?«
Sito zuckte mit den Schultern. »Genau das frage ich mich auch.«
Jäger sah wieder nach draußen. Der Baum vor dem Konferenzraum trug endlos viele Kastanien. »Ganz ehrlich, als ich vorhin den Kollegen Zimmermann gehört habe, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Rechten haben diesen Meinungskrieg fest im Griff, sie haben das Internet erobert, weil wir seit Jahren zusehen und alles verharmlosen. Der Terror ist längst in der Stadt.«
***
Ihre Eltern hatten gemeinsam mit ihr verschiedene Universitäten angesehen. Ihre Mutter war von der Idee, dass auch sie nach Konstanz gehen würde, natürlich begeistert, aber zur Sicherheit sollte sie sich über Alternativen informieren. An dem Tag, als sie sich im Allgäu auf den Weg nach Meersburg machten, um dort auf die Fähre nach Konstanz zu steigen, regnete es in Strömen. Ihre Mutter fluchte leise, aber unaufhörlich auf der Fahrt. Sie hatte sich das so schön ausgemalt: die Fahrt über den Bodensee, die Ankunft in Konstanz-Staad, dort mit dem Bus in die Stadt, ein wenig herumschlendern durch die vielen schönen Gassen der Altstadt, schließlich mit der Neuner-Linie hinauf zur Uni. Und dann so etwas: alles grau und nass draußen. Unerbittlich regnete es, und unerbittlich verfolgte ihre Mutter dennoch den Plan, ihr Konstanz so schmackhaft wie möglich zu machen.
Hilke musste lächeln, als sie sich gerade daran erinnerte. Vielleicht hätte sie ihrer Mutter gleich sagen sollen, dass sie längst vorhatte, in Konstanz zu studieren. Am Hafen, als die Mutter gerade über das Hochwasser von 2005 referierte – wie passend zu dem Regen –, hörte selbiger endlich auf. Die Sonne kam heraus und mit ihr das strahlende Lächeln der Mutter.
Hilke wischte die Gedanken an den Regen und die Tauben auf der Marktstätte ebenso weg wie die Tatsache, dass vor ihr noch ein Stapel Bücher lag, den sie lesen wollte. Sie war unkonzentriert. Dieses alte Militärfahrzeug, das sie vorhin auf dem Parkplatz gesehen hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Und sie wusste auch, weshalb: An der Windschutzscheibe hatte sie einen Totenkopf baumeln sehen. Wenn sie sich diesen jetzt in Erinnerung rief, dann lief es ihr eiskalt über den Rücken.
Hilke lehnte sich für einen Augenblick zurück, froh, in friedlichen Zeiten zu leben, und wissend, dass es auch wieder anders werden könnte. Sie hielt inne. War da ein Geräusch? Sie sah sich um. Da wieder. Schnelle Schritte. Irgendwo. Sie sah sich wieder um. Niemand war zu sehen. Sie war noch ganz allein in den ›heiligen Hallen‹, wie sie die Bibliothek gern mit einem Augenzwinkern bezeichnete.
Die Bibliothek der Universität Konstanz war ein besonderer Ort. Sieben Jahre lang war sie kernsaniert worden, 2017 dann endlich waren diese Maßnahmen abgeschlossen. Hilke hatte das Glück, schon in der neuen Bibliothek zu arbeiten. Im Eingangsbereich empfing einen nüchternes Grau, klare geometrische Strukturen, die großen Lichtkreise an der Decke und das leuchtende Gelb der Mittelwände. Einerseits fand sie das nicht gerade gemütlich, andererseits war sie in den Bann gezogen von der Klarheit des Konzeptes.
Ihre Gedanken waren schon wieder abgeschweift. Wieder hörte sie etwas, wieder sah sie sich um, stand dieses Mal sogar auf und beugte sich um eine Regalreihe, die ihr die Sicht zum Ausgang versperrt hatte. Nichts. Sie merkte, dass ihr Puls sich beschleunigte. »Hallo?«, fragte sie vorsichtig in den Raum. Nichts. Sie setzte sich wieder, vorsichtig und flach atmend. Energisch schüttelte sie den Kopf.
Spinn ich jetzt? Ganz ruhig, du bist in der Bibliothek.
Hilke schlug entschieden das Buch auf und beugte sich darüber, als sie Schreie hörte. Sie kamen vom Gang und dröhnten durch ein Megafon. Es dauerte, bis die Worte ihr Gehirn erreichten, vermutlich begriff sie erst beim dritten Mal, was da gerade passierte. Sie solle die Bibliothek verlassen, hieß es, sofort. Wer zurückbleibe, werde erschossen.
Die Worte hallten durch die Bücherreihen, hallten wider vom Boden und von der Decke, umfingen sie. Sie packte ihre Stifte in ihr Mäppchen und stand auf, als wäre es wichtig, den Platz ordentlich zu verlassen. Für einen Moment verharrte sie, dann klappte sie das Buch zu. Jetzt sah sie einen Mann mit Sturmmaske und einer alten Uniform. In einer Hand hielt er ein Gewehr.
»Los jetzt, raus hier!«, schrie er, doch die Stimme kam nur gedämpft an ihr Ohr. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, kam an ihm vorbei, roch seinen rauchigen Atem.
Vor der Bibliothek warteten bereits andere Menschen, aber sie kannte niemanden. Schreie folgten, weitere Befehle drangen durch die Halle. Zum Eingangsbereich sollten sie alle laufen. Keiner wagte einen Ausbruch. Unterwegs hörten sie noch mehr aufgeregte Rufe, Stolpern, einige stürzten. Im Eingangsbereich der Universität warteten an die zweihundert Menschen.
Hilkes Herz galoppierte. Erst jetzt traf es sie wie ein Schlag: Das hier war keine Übung, es war auch kein übler Scherz. Es war todernst.
***
Schweiß lief ihm über die Stirn, obwohl es nicht sonderlich warm war. Noch widerstrebte es ihm, mit dem Ärmel darüberzuwischen. Er fühlte die Tropfen an seinem Hemdkragen. Es war ein kariertes Hemd, überall blaue und braune Linien, die einander kreuzten. Anna hatte gelacht. Schon lange hatte er kein kariertes Hemd mehr getragen, stattdessen Rollkragenpullis und eine Weile Langarmshirts mit Sakko darüber. Heute also ein kariertes Hemd, das jetzt Schweißtropfen sammelte. Seine Hand glitt langsam in seine Hosentasche. Enzig war froh, sich für die etwas weitere Stoffhose entschieden zu haben – er hatte Platz, sein Smartphone abzutasten, im Moment aber vor allem Angst, es würde ihm aus den Händen rutschen.
Miriam beobachtete ihn. Sie wusste, worauf es jetzt ankam, das konnte er ihr ansehen. Unmerklich nickte sie ihm zu, dann stand sie entschlossen auf.
»Hey, du, hinsetzen«, rief der Mann, der die Gruppe bewachte und sofort seine Waffe auf Miriam richtete.
Miriam hob die Arme. »Ich wollte nur eine Frage stellen.«
»Setz dich hin«, rief ein anderer barsch.
»Könnten wir vielleicht etwas zu trinken haben? Es ist so stickig. Bitte.«
Der Mann drehte sich zu seinen Kollegen und lachte übertrieben. »Es ist stickig, ha, und ein Getränk möchte die Dame bestellen. Na so was. Klar, wir bestellen ein paar Cocktails.«