Kieler Bagaluten. Henning Schöttke

Kieler Bagaluten - Henning Schöttke


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sei Dank auch – werden ab einem bestimmten Alter schon mal etwas vergesslich. Selbst mit ihren jugendlichen achtundfünfzig würde es mich nicht wundern, wenn Frau Heerten übermorgen vergessen hätte, dass sie vorgestern Nachbars Katze totgefahren hat. Aber was letzten Dienstag vor dreißig Jahren los war, daran können sich die Alten prima erinnern. Und deshalb weiß Frau Heerten auch noch ganz genau, dass dieser Schuppi damals ein ziemlicher Taugenichts gewesen ist.

      Na bravo, sie hat die vergammelten Sachen von einem Taugenichts ausgebuddelt – sofern dieser Tschitschinski oder wie er heißt und Schuppi ein und derselbe sind.

      Tja, ist er es, oder ist er es nicht? Mit dieser Frage und dem Rest Eierlikör verzieht sich Frau Heerten für heute ins Bett.

      5

      Nach einem höchst erquicklichen Schlaf – sie sollte immer eine Flasche Eierlikör mit ins Bett nehmen – wacht Frau Heerten in großartiger Stimmung auf. Das Leben ist herrlich. Da ist wirklich nichts dran auszusetzen. Sie richtet sich auf. Die gute Stimmung bleibt sogar noch da, als sie dieses Ziehen im Nacken spürt, das ihr in letzter Zeit so zu schaffen macht. Sie kann manchmal nicht mal mehr den Kopf richtig drehen. Radfahrer haben schlechte Karten, wenn sie mit dem Auto rechts abbiegt.

      Da kommt die Erinnerung wieder und haut ihr in die Magengrube. Sie hat Nachbars Katze ermordet, das Wohnzimmer sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, und auf dem Küchentisch an ihrem Lieblingsplatz liegt die vergammelte Identität eines Taugenichts.

      Schlimmer geht’s nimmer.

      Da hilft nur Klosterfrau Melissengeist oder alternativ ein Gläschen Eierlikör. Sie entscheidet sich für die Alternative, zieht sich an, umschifft Wohnzimmer und Küche, verzichtet auf ihren morgendlichen Tablettencocktail und lässt sogar das geliebte Staubwischen sausen. Sie verlässt das Haus und macht sich auf zu Edeka, um für likörlichen Nachschub zu sorgen. Ohne einen gewissen Alkoholpegel wird sie dem Gang in ihr verwüstetes Wohnzimmer nicht gewachsen sein.

      Wie leicht ihr Edeka von den Lippen oder besser gesagt von den Gehirnlappen geht. Dabei war es doch so lange Eno und ist jetzt eigentlich Fiedler. Sie hätte sich natürlich auch zu Sky auf den Weg machen können. Sky war früher coop, für uns Schleswig-Holsteiner der Garant für Eierlikör und alles, was man im Leben so braucht. Aber Edeka ist fünf Schritte näher dran als Sky, der sich jetzt Rewe nennt – was allerdings nicht wirklich der Grund sein kann, denn sie fährt mit dem Auto.

      Ja, solche Menschen gibt es. Denen sind Ozonloch und Umweltkatastrophe schnurz, die verpesten selbst für kürzeste Strecken mit ihrem Galoppi die Luft. Von daher wäre es also egal, ob sie zu Edeka, Verzeihung, Fiedler fährt oder zu Sky, Verzeihung, Rewe. Im Auto machen die paar Meter mehr den Kohl nicht fett. Aber der Parkplatz von Edeka ist ein Rechteck, und Sky hat sich für eine L-Form entschieden, mit dem Ergebnis, dass auf diesem Parkplatz Autos aus allen erdenklichen Richtungen hervorpreschen und Fahrer verunsichern, die beim Drehen des Kopfes ein Ziehen im Nacken haben und den Rückwärtsgang nur im äußersten Notfall benutzen. Außerdem sind die Parkplätze nicht gegenüberliegend, sondern versetzt angeordnet. Wenn das Gegenüber seine Parkstelle geräumt hat, kann man also nicht vorwärts wegfahren, sondern muss rückwärts ausparken. Wer will es Frau Heerten da verdenken, dass sie Edeka, äh, Fiedler, vorzieht?

      Gerade will sie in eine freie Parkbucht fahren, da stößt von der Gegenseite ein Riesengeschoss in die Lücke. Solche sich gegenüberliegenden Parkplätze haben also nicht nur Vorteile. Frau Heerten wedelt ungeduldig mit der Hand und bedeutet dem Schatten auf dem Fahrersitz des SUV, er möge bitte schleunigst den Rückwärtsgang einlegen, weil sie hier zu parken gedenkt.

      Der Klassiker, sagst du jetzt sicher, zwei Autofahrer streiten sich um einen Parkplatz. Vielleicht, wenn dies der letzte freie Platz wäre und der nächste ungefähr hundert Kilometer entfernt. Ist hier aber nicht der Fall. Edeka verfügt über reichlich Parkraum.

      Trotzdem: Frau Heerten und der SUV, beide schon halb auf dem Platz ihrer Begierde, bleiben stehen und wedeln sich gegenseitig zu, der andere solle verschwinden – und zwar ein bisschen plötzlich. Nachdem sich ein, zwei Minuten nichts gerührt hat, öffnet der SUV seine Fahrertür, und ihm entsteigt ein hochhackiges Bein, gefolgt von einer eleganten Dame mit Daunenweste und Pelzkrägelchen.

      »Nun sehen Sie mal zu«, sagt das Pelzkrägelchen zu Frau Heerten, nachdem diese die Scheibe runtergelassen hat, »dass Sie Ihre Blechschleuder zurücksetzen, damit ich parken kann.«

      »Ich war aber zuerst hier«, sagt Frau Heerten.

      »Passen Sie mal auf, Schätzchen.« Das Pelzkrägelchen wippt leicht auf seinen hohen Hacken auf und nieder. »Ich werde jetzt einsteigen und langsam vorfahren. Was meinen Sie? Welches Auto wird platt sein, sobald ich Gas gebe?«

      Hatte ich schon gesagt, dass reichlich freie Parkplätze vorhanden sind? Es muss also um was anderes gehen als um diesen Parkplatz. Richtig, es geht um Macht und Stärke, und im Augenblick scheint beides klar aufseiten des SUV mit Pelzkragen zu sein.

      Frau Heerten treten Tränen in die Augen, während sie den Rückwärtsgang einlegt. Was für eine Scheiße. Sie hat ihren Mann verloren, die Tochter verweigert ihr die Enkelkinder, in ihrem Wohnzimmer herrscht totales Chaos, sie hat Nachbars Katze totgefahren, und auf ihrem Küchentisch liegt die verkorkste Identität von Karins Mitschüler. Sie hat auf ganzer Linie die Arschkarte gezogen und muss nun auch noch vor dieser blöden Schnepfe klein beigeben, weil die schöner, stärker und reicher ist.

      Der werd ich es zeigen, denkt sie und haut aufs Lenkrad, während sie mit rotem Kopf den nächsten Parkplatz ansteuert. »Mord aufgeklärt« wird das Pelzkrägelchen in den »Kieler Nachrichten« lesen und mit peinlichem Entsetzen feststellen, dass sie diese zweite Miss Marple mal mit ihrem Riesenschlitten vom Parkplatz gefegt hat.

      Ja, am Ende wird sie siegen. Die werden sich noch alle umgucken!

      6

      Ganz lässig ist Frau Heerten. Sie würdigt das Pelzkrägelchen, das in der Schlange an der Wursttheke steht, keines Blickes, schnappt sich eine Flasche Ei, ei, ei Verpoorten und stellt sich an die Kasse.

      »Nein. Die Frau Heerten«, sagt eine Stimme hinter ihr. Mit ganz langem Ei: Neieiein. So ein Nein mit drei Eis ist ganz klar ein Ja. »Ja, die Frau Heerten«, sagt so ein Nein. Und schon wird Frau Heerten aus der Schlange gezogen, und die Neieiein-Frau drängt ihr ein Gespräch auf. Wie es ihr denn ginge und wie lange das denn nun schon wieder her sei, dass man sich gesehen habe, und nein, wie nett, dass man sich jetzt bei Fiedler … »Und wie geht es denn der kleinen Karin?«

      »Die kleine Karin hat zwei Kinder und wohnt in Hamburg«, sagt Frau Heerten und überlegt fieberhaft, woher sie diese Vielschwätzerin eigentlich kennt. »Erinnern Sie sich noch an den Schuppi?«, fragt sie schließlich auf gut Glück.

      »Klar«, sagt Frau Vielschwätzer, »das war doch der, der die Lehrer immer zur Weißglut gebracht hat. Hat sich im Klassenschrank versteckt und Faxen gemacht. Als er dann größer war, hat er es manchen Lehrern richtig schwergemacht, wenn sie sich auf Diskussionen mit ihm einließen. Nee, blöd war der nicht, aber schwierig. Immer die Unterschrift der Eltern gefälscht. Einmal hat er mit vier Kreuzen unterschrieben. ›Wieso vier?‹, hat der Lehrer gefragt. Das erste stehe für ›Doktor‹, hat er gesagt. Nein, was war der ulkig. Hat ja gleich bei uns nebenan gewohnt.«

      »Wissen Sie noch, wie der in Wirklichkeit hieß?«, fragt Frau Heerten.

      Oha, gefährlich, einen Vielschwätzer etwas zu fragen. Sollte man nie tun. Das tritt eine Lawine los, du glaubst es nicht. Aber wenn man die vergammelte Identität eines Rabauken bei sich zu Hause auf dem Küchentisch liegen hat, ist das irgendwie verständlich.

      Als Frau Vielschwätzer endlich leer geschwätzt ist, weiß Frau Heerten, dass Schuppi in echt Schupritschinski heißt, mal ganz groß als Fußballer rauskommen wollte, aber natürlich alles verkackt hat und dann als Arbeitsloser die schöne Wohnung am Amrumring hat aufgeben müssen, wo die Eltern doch alles für ihn getan hätten und ihm sogar die schöne Wohnung überlassen haben, als sie nach Düsseldorf gezogen


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