Kieler Bagaluten. Henning Schöttke
die Daumen, dass diesmal alles reibungslos über die Bühne geht. Nicht wie beim Abriss der Prinz-Heinrich-Brücke 1992, wo die Schlaumeier des Abrisskommandos die Last der Fachwerkkonstruktion halbe-halbe auf die Kräne verteilen wollten. Wer schon mal zu zweit ein Sofa in den obersten Stock getragen hat, weiß, dass das Quatsch ist. Der linke Kran ist denn auch eingeknickt und das Sofa – Entschuldigung, die Brücke – in den Kanal gekippt.
Wieder in der Küche, knüllt Frau Heerten den Zettel zusammen und wirft das gendermäßig inkorrekte Teil gekonnt in ihren Behälter für Altpapier.
Ja, mit ihrem Altpapier ist sie heikel. Alles, was auch nur entfernt an Papier erinnert, wandert in diesen Korb oder gleich in die blaue Tonne. Die »Kieler Nachrichten«, ganz klar: Papiertonne. Manchmal sogar fast ungelesen. Auch wenn Frau Heerten noch nicht in dem Alter ist, in dem Artikel über Weltwirtschaftskrisen und neue Bauvorhaben in der Wyk sie deutlich weniger interessieren als die Seite mit den Todesanzeigen.
Allerdings bringt allein die tägliche Zeitungsration die Tonne manchmal an ihre Grenzen. Die alten Quittungen über Cola, Batterien und all so ’n Zeug, die sie in dem gammeligen Portemonnaie von diesem Schuppidingsbums findet, passen aber todsicher noch rein. Die kann sie getrost entsorgen. Die braucht nicht mal mehr Schuppi, sollte er jemals wieder auftauchen.
Doch dann wird sie stutzig.
»Pampers x 10: 34,90 €«, steht auf einem Kassenbon. Und auf einem anderen: »Baby-Gemüsegläschen à 2,39 € x 10: 23,90 €«.
Gut, dass die Lupe noch auf dem Küchentisch liegt. In siebenfacher Vergrößerung gibt es keinen Zweifel: Schuppi hat für fast sechzig Euro Baby-Equipment eingekauft. Bei so was handelt es sich wohl kaum um ein Gastgeschenk, das man einer Angebeteten mitbringt.
Ein Lupenblick auf das Verkaufsdatum, und Frau Heerten weiß: Schuppi oder Schuppine junior müsste jetzt vier bis fünf Jahre alt sein.
2
In Karins Altonaer Wohnung klingelt das Telefon. Sie geht ran.
»Was sagt dir eigentlich der Name Schuppi?«, hört sie.
Ohne »Hier ist Mami«, ohne Begrüßung, ohne alles.
Na, so geht das natürlich nicht. Mehrere Jahre Funkstille zwischen Mutter und Tochter. Kein einziges Wort. Nichts. Um nicht zu sagen, gar nichts. Da könnte man von einer liebenden Mutter doch erwarten, dass sie, wenn sie nach so langer Zeit mal anruft, nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt, sondern mit einem »Hallo, Karin, wie geht es dir?« oder mit einem »Karin, wir sollten uns wieder vertragen« den Boden bereitet. Doch nichts dergleichen, sondern gleich hopplahopp mittenmang: »Was sagt dir eigentlich der Name Schuppi?«
»Mami?«, fragt Karin erstaunt.
»Ja, Gott, Kind. Natürlich.«
Die Worte der mütterlichen Stimme rotieren in Karins Kopf. Gott, natürlich, Kind – Kind, Gott, natürlich – natürlich, Gott, Kind. Ich muss sagen: So richtig verdenken kann ich es Karin nicht. Du wärst auch leicht verwirrt, wenn dein eigen Fleisch und Blut Gott und Kind mit dem Wort »natürlich« vermanscht – und das nach Jahren der Funkstille.
»Mami?«, fragt Karin noch mal.
»Ja, hier ist deine Mutter«, bequemt sich Frau Heerten endlich zu sagen.
»Mein Gott, Mami!«, ruft Karin.
Na ja, viel besser ist das nicht. Für meine Begriffe ist auch da mindestens der Gott zu viel. Aber Frau Heerten gehört nicht zu den Menschen, die sich um Götter Gedanken machen, zumal andere Themen in ihrem Kopf kreisen.
»Ich hab Wum im Bilderrahmen«, sagt sie anklagend.
»Wie bitte?«, fragt Karin.
Es bringt wohl nicht viel, wenn wir dem Telefonat an dieser Stelle noch weiter folgen. So ein erstes Gespräch nach Jahren der Stille ist nie schön. Wenn dann noch Tränen der Versöhnung fließen – wer will bei so was dabei sein? Deshalb klinken wir uns erst wieder ein, als Karin fragt, was das mit Schuppi vorhin eigentlich gesollt haben soll.
»Ja, eben«, sagt Frau Heerten, »was sagt dir der Name Schuppi?«
»Schuppi …«, sinniert Karin. »Das war doch der, der –«
»Genau der«, unterbricht ihre Mutter sie.
Karin, aus der eben noch beinah Tränen der Rührung über den Versöhnungsanruf herausfließen wollten, ist dicht davor aufzulegen. Kein bisschen verändert, die Mutter. Immer noch der ungeduldige Besen von einst, nur Jahre älter. Doch sie nimmt sich zusammen und fängt an zu erzählen.
Süß war er, der Martin, der für alle anderen nur Schuppi war. Ein bisschen hallodrimäßig vielleicht, aber alle fanden ihn toll. Ja, sie hatte auch mal was mit ihm gehabt, mit dem süßen Martin, sogar dann noch, als manche behaupteten, er hätte auch mit anderen was, der Arsch.
»Kind«, sagt Frau Heerten, »das will ich doch alles gar nicht wissen. Sag mir lieber, was aus ihm geworden ist.«
Typisch. Da will Karin endlich mal ihre Vergangenheit aufarbeiten, die immer noch nicht verheilte Wunde mit mütterlichem Balsam beträufeln lassen, aber Mami zieht nicht mit. Hat nie mitgezogen. Ja, wirklich, Karin kann sich nicht erinnern, dass Mami auch nur ein einziges Mal …
»Was hast du gesagt?«, fragt Karin. Vielleicht hat sie sich ja verhört und Mami hat gesagt: Das will ich später wissen, sag mir erst mal, was aus dir geworden ist. Aber nein.
»Was macht der Schuppi jetzt?«
»Keine Ahnung.« Karin überlegt ernsthaft, ob sie nicht auflegen sollte.
»Du wirst doch wohl wissen, was aus deinem Ex-Lover geworden ist«, sagt Frau Heerten. Ihre Stimme hat jetzt wieder diesen unangenehm piksenden Ton, der Karin so nervt. »Immerhin hattest du doch mal irgendwie so was wie ein Verhältnis mit diesem Polen.«
»Dieser Pole? Was soll das denn jetzt heißen?«
Wenn du mich fragst, wäre es spätestens jetzt an der Zeit, das Gespräch zu beenden und die nächsten Jahre Funkstille einzuläuten. Solche Vorwürfe betteln geradezu darum.
»Martin ist Deutscher«, sagt Karin stattdessen spitz. »Er hat einen deutschen Pass.«
»Ja, Gott, Kind, das weiß ich. Ich will wissen, wo er ist. Was er jetzt macht.«
»Woher?«
»Was meinst du? Woher?«
»Woher weißt du, dass Martin einen deutschen Pass hat?«
Frau Heerten schweigt. Was soll sie darauf sagen? Dass sie Nachbars Katze überfahren und dann heimlich vergraben hat, weil sie die einzigen Enkelkinder, die sie nach ihrem Streit mit Karin noch hat, nicht auch noch verlieren wollte? Dass sie sich schuldig fühlt, weil sie zu tief ins Glas geschaut hat? Dass sie Schuppis Pass in dem Loch für die Katze gefunden hat? Bis sie der Tochter das alles aufgedröselt hat, ist Weihnachten.
»Liebes«, sagt sie, »ich hab im Keller ein Buch gefunden. Musst du dir mal von ihm geliehen haben, steht sein Name drin. Das will ich ihm zurückgeben.«
»Mutter, da mach dir mal keine Sorgen, das kannst du sicher behalten.«
»Kind, nun sei doch nicht so stur.« Langsam wird Frau Heerten böse. »Gib mir endlich seine Adresse.«
Mutter, wie sie leibt und lebt, denkt Karin. Das ist mal wieder typisch für sie. Ungeduldig bis zum Geht-nicht-mehr, immer nur auf sich bedacht, die Tochter ist ihr völlig schnuppe. War schon damals so. Wenn sie noch daran denkt, was sie … nein, da denkt sie lieber nicht dran. Das war zu schrecklich. Damals hätte sie eine mitfühlende Mutter gebraucht und kein »Was ist denn nun schon wieder? Stell dich nicht so an und lass die Heulerei«.
Eine völlig gefühlskalte Zimtzicke ist Mutter. Karins Hand krallt sich um den Telefonhörer. Keine fünf Minuten wird sie ihre beiden kleinen Engelchen der Obhut dieser Frau überlassen,