Kieler Bagaluten. Henning Schöttke

Kieler Bagaluten - Henning Schöttke


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solchen Drachen verlieben? Und auch noch zwei Kinder mit ihr in die Welt setzen? Was hatte Mutter gesagt, als er so plötzlich starb? »Wie kann er nur?«, hatte sie gesagt. »Lässt mich allein zurück«, hatte sie gesagt. »Gerade jetzt, wo ich ihn so sehr brauche.« Keine Tränen, nur ich bin allein, ich brauch ihn doch, was mach ich jetzt ohne ihn und sein Gehalt.

      Gleich nach Papas Beerdigung hatte Karin alle Brücken zu ihrer Mutter abgebrochen und sich ganz auf ihre Ehe mit Christian konzentriert. Er war vielleicht nicht die beste Wahl gewesen, aber immerhin besser als noch einen Tag länger mit Mutter …

      Mutter.

      Ihre Mutter.

      Karin treten Tränen in die Augen. Zusammen mit dem Vater hat sie vor sechs Jahren auch die Mutter verloren. Nur noch Christian hat sie. Und die Kinder. Aber keine Eltern mehr.

      Doch … die Mutter lebt. Sie lebt noch! Lebt einsam und allein in ihrem Haus.

      »Was hast du gesagt?«, fragt Karin und bricht damit endlich das Schweigen.

      »Ich hab dich nach Martins Adresse gefragt«, sagt Frau Heerten.

      »Keine Ahnung. Er muss wohl ziemlich runtergekommen sein, nachdem er mit mir Schluss gemacht hat. Das Letzte, was ich weiß, ist, dass er irgendwo in irgendeiner Laube in irgendeinem Schrebergarten gehaust hat.«

      »Ach …«, sagt Frau Heerten. »Schrebergarten? So was gibt es noch?«

      »Wieso denn nicht?«, fragt Karin.

      »Schrebergärten«, erklärt ihr die Mutter, »waren nach dem Zweiten Weltkrieg dazu da, die Ernährungslage der Bevölkerung zu verbessern. Das hat sich ja heute dank Aldi und Co. weitgehend erledigt.«

      Recht hat sie, die gute Frau Heerten. Deshalb heißen Schrebergärten auch nicht mehr Schrebergärten, sondern Heimgarten, Familiengarten, Gartenkolonie oder Laubenkolonie, und bewirtschaftet werden sie von sogenannten Laubenpiepern. Und natürlich zunehmend von töpfernden, selbst gestrickten Ökofrauen, die den Anbau ihrer Biomöhrchen selbst in die Hand nehmen wollen. In allererster Linie aber gibt es dort Leute, die ihr Bier gern in freier Natur trinken und denen der heimatliche Balkon zum Grillen mit Freunden und Nachbarn zu klein ist.

      Aber zum Wohnen?

      »Der Schuppi hat also in einem Schrebergartenhäuschen gewohnt?«, fragt Frau Heerten. »Gibt es da denn überhaupt eine Dusche?«

      »Mutter, du nervst«, sagt Karin. »Der Martin war ziemlich fertig und hat sich mangels Geld dorthin verkrochen. Eine Dusche wird bestimmt seine letzte Sorge gewesen sein. Keine Ahnung, wie es ihm jetzt geht.«

      »Wenn er so runtergekommen war, wie du sagst, warum hast du ihm denn dann nicht geholfen?«

      Karin erlaubt sich jetzt auch ein Piksen in der Stimme. »Der Arsch hat mich von einem Tag auf den anderen sitzen lassen. Wegen seiner Scheiß-Nussallergie. Ich hätte ihn beinah umgebracht, hat er gesagt. Weil ich Nüsse gegessen hatte und er fast erstickt wäre, als er mich geküsst hat.

      Frau Heerten lässt nicht locker. »Hat dein Martin eigentlich Kinder?«

      »Ja. Fünf Stück. Die sitzen mit ihm im Schrebergarten, duschen, bis der Arzt kommt, und haben allesamt seine Nussallergie geerbt. Mutter! Ich weiß nichts mehr über den Kerl. Und nun lass mich endlich damit in Ruhe!«

      Beide schweigen eine Weile.

      »Ach, übrigens«, sagt Frau Heerten schließlich, »das war nicht richtig von dir, dass du damals, als Papa –«

      »Lass es«, unterbricht Karin sie. »Mutter, LASS ES. Lass es gut sein!«

      Klick. Karin hat aufgelegt. Wer kann es ihr verdenken? Aber so sind sie, die Mütter. Man könnte wirklich schier verzweifeln. Leider, leider – Mainzelmännchen und Wum werden wohl weiterhin in ihren Bilderrahmen ausharren müssen.

      3

      Sehr unerquicklich, dieses Gespräch mit der Tochter. Frau Heerten geht in die Küche, schwankt eine Weile, ob sie sich zum Trost noch einen Eierlikör genehmigen oder lieber einen Kaffee kochen soll, entscheidet sich dann für beides und schmeißt die Kaffeemaschine an.

      Sie ist mal wieder selbst schuld, sinniert sie. Statt sich zu freuen, dass Karin nach so langer Sendepause am Telefon eine liebevollere Gangart anschlägt, bringt sie sie mit einem ihr offensichtlich unangenehmen Thema gleich wieder aus der Spur.

      Nachdem die Kaffeetasse dampfend vor ihr steht und die Eierlikörflasche entkorkt beziehungsweise entdeckelt ist, nimmt sie sich erneut die Kassenbons von Schuppi vor. Für einen einsamen, armen Mann in einem Schrebergärtchen ohne Dusche hat er ganz schön hohe Beträge bei den verschiedensten Supermärkten gelassen. Sie stutzt, als sie zwischen Papiertaschentüchern und einer Packung Klopapier eine Tafel Schoko mit ganzen Nüssen findet. Als Nussallergiker?

      Als sie einen prüfenden Blick durch die Lupe wirft, ob sich das Wort »Nüssen« in siebenfacher Vergrößerung nicht vielleicht als »Küssen« entpuppt, klingelt es an der Haustür. Sicherlich wieder die Polizei. Vielleicht will diesmal ein Nachbar gesehen haben, wie sie nachts um eins eine Leiche in ihrem Garten vergraben hat, und die Polizei wird sie darauf aufmerksam machen, dass das Entsorgen von Leichen im heimischen Garten der Abfallordnung widerspricht.

      »Was ist denn nun schon wieder los?«, sagt sie, als sie die Tür aufreißt.

      »Tante Heerten, hast du Maunzi gesehen?«, fragt ein völlig verheulter Junge mit völlig verheulter Schwester an der Hand. Felix und Mia, die Kleinen von Jürgen.

      Jürgen? Hat sie wirklich Jürgen gedacht? Nicht die Kleinen der Wagners? Oder die Nachbarskinder? Nein, sie hat tatsächlich Jürgen gedacht. Ich sollte mir vielleicht Sorgen machen.

      Frau Heerten schluckt. Die Kinder sind in Tränen aufgelöst, und sie ist schuld. Doch dann fasst sie sich wieder. »Immer rein in die gute Stube«, sagt sie und hält die Tür auf.

      Die beiden trapsen an ihr vorbei ins Wohnzimmer, schubsen die mühsam mit Hasenohren versehenen Kissen achtlos zur Seite und klettern aufs Sofa.

      »Hast du Maunzi gesehen, Tante Heerten?«, fragt Mia. Tränen kullern ihr über die kleinen schwerstgeröteten Bäckchen.

      Natürlich hat Frau Heerten Maunzi gesehen. Völlig vermanscht war sie, und sie hat sie in ihrem Auto spazieren gefahren.

      »Ich mach euch erst mal jedem ein Glas Saft«, sagt Frau Heerten und flüchtet in die Küche.

      Ganz schön mutig von ihr. Kinder, Saft und Sofa passen nicht zusammen. Kinder und Saft geht – aber nur auf abwischbaren Küchenböden. Kinder und Sofa gehen auch, allerdings sollte man sich dann schon mal prophylaktisch von der Unversehrtheit der Polster verabschieden. Saft und Sofa geht natürlich ebenfalls, wenn man allein ist und in Hab-Acht-Stellung ein Umkippen der Gläser verhindert. Aber Kinder – obendrein verheulte – mit Saft auf dem geliebten Wohnzimmersofa … da ist die Katastrophe vorprogrammiert. Siehst du, so ist das mit dem schlechten Gewissen: Es lässt einen alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord werfen.

      »Wir haben schon überall gesucht«, sagt Felix, als Frau Heerten mit drei Gläsern Orangensaft ins Wohnzimmer kommt.

      »Was sagt denn eure Mutter dazu, dass Maunzi verschwunden ist?«, will Frau Heerten fragen, da fällt ihr ein, dass Frau Wagner die Familie schon vor einiger Zeit verlassen hat. Vorsichtig reicht sie den Kindern die Gläser.

      »Papa hat uns Zettel gedruckt, die wir überall angeklebt haben«, sagt Mia und verschüttet ein bisschen Saft auf dem Couchtisch.

      Felix nickt. Seine Hose hat einen großen dunklen Fleck, und Frau Heerten betet, dass er vom Orangensaft kommt.

      »Wollen wir Uno spielen?«, schlägt Frau Heerten vor, um die Kinder auf andere Gedanken zu bringen.

      Spielen lässt einen alles vergessen. Mia vergisst Maunzi, Felix vergisst, dass Mia seine geliebte kleine Schwester ist, und Frau Heerten vergisst Jürgen. Doch die wegge Gattin


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