La Fenice. Lea Singer
kenne die Geschichten. Hast du drüber nachgedacht, was die sogenannten Rettungsaktionen bewirkten? Dass die Opfer danach nicht mehr sprechen, also nicht mehr aussagen konnten?
War Aretino nicht aufgefallen, mir auch nicht.
Er hatte mich nur vorbereitet auf Venezianer, die sich wegen ihrer besonderen Herkunft etwas einbildeten, deswegen als Götter, wenigstens Halbgötter fühlten, menschlich aber nichts Besonderes und schon gar nichts Besseres seien. Sich um eine Frau zu bemühen, hielten sie für unter ihrer Würde. Ein Gott wirbt nicht.
Was das bedeutete, hatte Aretino ziemlich einfach übersetzt:
Die kaufen sich lieber eine, und zwar eine, die nicht billig zu haben ist. Davon kannst du leben, mehr als gut leben, auch ziemlich ungefährdet, wenn du so schlau wirst, dass dir keiner deine Schläue anmerkt. Du musst auch verinnerlicht haben, was die von dir wollen. In unserer Regierung sitzen verheiratete Männer, nicht mehr die Allerjüngsten, und sie wissen genau, dass ihre ledigen gelangweilten reichen Geschlechtsgenossen, solange sie Junghengste sind, ihren Trieb ausleben wollen, bei ihnen war es ja genauso. Das Hurenmilieu ekelt die jungen Verwöhnten an, nicht nur, weil dort, wo die Preise niedrig sind, die Ansteckungsgefahr verflucht hoch ist, auch weil es dort stinkt und schlimmer ausschaut als bei ihnen im Haus die Kammer des Dienstmädchens.
Im Visier, sagte Aretino, haben sie also die jungen gelangweilten reichen Ehefrauen der anderen. Wegsperren ist eine beliebte Lösung, sicher ist sie nicht. Personal kriegt immer zu wenig Geld. Außerdem machen es alle Männer gleich: In den sechs Monaten Karneval legen sie, wie du weißt, die Masken nicht ab. Die Verheirateten unter den Kunden, die wollen nichts anderes als das, was sie von zu Hause kennen, Perlenkette, Parfum, feine Unterwäsche, gute Manieren, sie wollen nur nicht dasselbe. Die Junghengste wollen vor der Ehe ohne Verpflichtung in angenehmer Umgebung eine Frau …
Eine Frau vögeln, hatte Aretino gesagt, auch dieses Wort hätte in der Stube der Fedele gestunken. Besitzen, sagte ich, eine Frau besitzen, die alles bietet, worum man sich sonst bemühen muss. Die Politiker, sagte Aretino, engagieren sich für die Gutbezahlten, gestehen ihnen zu, dass sie sich, anders als die Huren, in der ganzen Stadt bewegen dürfen, auf Bälle gehen, in den Salons von Belesenen verkehren und mitreden. Auf diese Weise verhindern sie, ständig gehörnt zu werden von Junghengsten, die sich bei ihren Ehefrauen bedienen. Deswegen dürfen diese oberen zwei- bis dreihundert unter den Käuflichen sich auch Kurtisanen nennen, sogar ehrenwerte Kurtisanen. Sie tun schließlich etwas für den sozialen Frieden.
Und er, fragte die Fedele, was tat Aretino für dich, dieser Wohltäter der Menschheit?
Versprach, mir das Notwendige beizubringen, um eine von den höchstens dreihundert zu werden.
In praktischen Übungen, für die er sich selbst aufopferte?, fragte sie.
Eine halbe Stunde lang verteidigte ich Aretino.
Er hat mich ausgebildet, ohne etwas dafür zu verlangen. Er hat mir Bücher geliehen mit den Geschichten aus der Mythologie, hat mir große Texte vorgesprochen. Er ist stolz auf sein klares Toskanisch, hat mir aber verraten, dass die meisten Männer von auswärts vernarrt sind in das venezianische Nuscheln, allerdings nur bei den Frauen. Er hat mir gezeigt, was die Kurtisanen von den einfachen Huren unterscheidet. Wochen hat er sich das kosten lassen.
Ich merkte, dass meine Wörter schneller waren als ich.
Überallhin hat er mich mitgenommen, wissen Sie, Wohnungsbesichtigungen bei den Erfolgreichen. Keine wohnte in der Nähe der einschlägigen Gegend um den Rialto, auch keine am Canal Grande, das ist ihnen verboten. Ich sollte mir merken, was unverzichtbar war. Es ging nicht nur um die Auswahl von Betten, Kissen, Matratzen, Teppichen oder Kleinmöbeln.
Die richtige Beleuchtung, die zählt, sagten die Gutbezahlten, mit nur einer Lampe an der Decke, wenn sie auch noch in der Mitte hängt, siehst du käsig und alt aus, und wenn der Mann in deinem Bett dich so sieht, weiß er, wie er selbst aussieht. Stille halten die meisten Männer schwer aus, aber reden wollen sie auch nicht unbedingt, also musst du singen können und brauchst mindestens ein Musikinstrument zum Selbstbegleiten, Gitarre oder Laute oder Mandoline, bis sie in Stimmung sind, und auch hinterher, wenn sie müde herumliegen. Spiegel sind wichtig, aber richtig platzieren musst du sie und überlegen, wer sich darin wie anschaut. Zwei, drei gute Gemälde musst du dir leisten – bewährt hatten sich die bekannten Szenen von Göttern und nackten Mädchen –, und ein, zwei Singvögel für angenehme Hintergrundgeräusche. Alle Frauen, bei denen wir waren, verfügten über einen Weinvorrat, empfohlen wurden Süßweine wie Malvasier, nicht zu stark und nicht zu viel, die Blase dürfe nicht voll sein.
Das haben sie dir alles frisch von der Leber weg erzählt?, fragte die Fedele.
Haben sie.
Glaubst du daran, dass Frauen zusammenhalten?
Was sonst!
Was hat Juno gemacht, wenn ihr Göttergatte Nymphen oder Königstöchter vergewaltigte?
Sie hat die Nymphen und Königstöchter verfolgt, bestraft oder ermorden lassen.
Die Garderoben der Gutbezahlten waren Apotheken. Auf den Kommoden Phiolen und Tiegel und Töpfe. Wer sollte das alles abstauben, und wozu das Ganze?
Arbeitsmaterial, wusste Aretino, Massageöle, Parfums, Raumdüfte, stärkende Elixiere, Medikamente und Pulver, vor allem eine Büchse mit der Lieblingsdroge der Reichen, Theriak. Laut Aretino enthält dieses Zeugs, das als Heilmittel gegen alles verkauft wird, von Husten bis Impotenz, von Malaria bis Franzosenkrankheit, um die dreihundert Ingredienzien, Opium ist dabei; ich hatte bisher nur gehört, dass Venedig damit die größten Umsätze in Europa machte und aus der Herstellung ein großes Spektakel.
Hilft, hilft absolut zuverlässig – wenn du dran glaubst, sagte Aretino, sonst hilft es nicht. Das ist sowieso das Wichtigste in deinem Beruf, glauben, an dich, an dein Können und deine Wirkung. Dann wird daraus etwas Wirkliches, du kannst andere glauben machen, was du willst. Wollen musst du das, was sie brauchen. Dafür zahlen sie. Du kannst Schwächlinge mit eingesunkener Brust in Muskelhelden verwandeln und Dummköpfe in Weise. Einer, dem sein Vater jeden Tag vorhält, was er selbst in dem Alter schon alles erreicht hatte, oder seine Frau, er werde niemals irgendwo der Erste sein, der will sich bei dir als Herkules fühlen. Der Glaube ist das Einzige, was einen schlappen …
Bitte?, sagte die Fedele. Steil aufgerichtet saß sie hinter ihrem Schreibtisch. Meinst du, ich merke nicht, dass du mir die Worte deines großen Lehrmeisters unterschlägst?
… was einen schlappen Schwanz aufrichtet. Tut mir leid.
Ihm sollte es leidtun. Was richtet ihn denn auf, deinen Aretino?
Ich weiß nicht, welche ihm am nächsten ist.
Habe ich wer gefragt?
Was. Das, worauf er stolz ist.
Worauf ist er stolz?
Auf seinen Aufstieg.
Den erkennt man woran?
Aretino hat Macht.
Woher?
Er hatte mir erklärt, dass alles, was an Hintergrundwissen und Geld aus weißderteufelwasfür Kanälen bei ihm einlief, nur dem Briefeschreiben zu verdanken sei, jeden Tag an Gottunddiewelt und über alles. Wer wen besticht und wen wie nahm, er sagte selbstverständlich etwas anderes und freute sich, wenn ich noch immer zusammenzuckte; wer was malt und wie geil oder göttlich, wer sich worüber das Maul zerreißt, wer der große Abzocker sein wird und wen es demnächst über die Kante haut. Der Vorrat an Wörtern und Wendungen müsse ein Keller sein, in dem es alles gibt, Lorbeersirup bis zum Erbrechen und jede Sorte Säure, von delikat bis ätzend.
Ich war gerannt beim Erzählen, aber auf keinem Wort mehr ausgerutscht, das nicht hierhergehörte.
Es ist wie beim Kochen, sagte Aretino, es braucht immer das Spitze und das Stumpfe; wenn eines fehlt, wird es fad. Man muss es können, das Briefeschreiben, was du schreibst, soll den Leuten schmecken wie dir meine Hühnersuppe. Stark und heiß und gut gewürzt soll es sein und hungrig machen auf mehr.