La Fenice. Lea Singer
darüber lustig, dass in Venedig Jahr für Jahr dreimal so viele Bücher gedruckt wurden wie in Mailand, Rom und Florenz zusammen, ausgerechnet in Venedig, wo es die besten Maler des Landes gab, aber kaum einen namhaften Schriftsteller oder Dichter.
Nach Harz und Ruß und Öl roch es in den Gewölben der Drucker, gesprochen wurde nichts, nicht einmal geflucht. Männer, deren Hemden wie Insektenflügel an den Leibern klebten, bedienten hölzerne Winden, drehten Kurbeln, drückten Hebelarme herunter, um armdicke Schrauben zu bewegen, wuchteten bleischwere Setzkästen und Papierblöcke, schoben Karren an, schmierten Gewinde, wechselten ihre Plätze, schnaubten und hoben den Blick nicht. Was drucken Sie?, fragte ich jedes Mal. Viele Druckereien boten etwas Besonderes. Wir drucken Arabisches mit arabischen Lettern, hörte ich dann, oder: Wir drucken Griechisches mit griechischen oder Glagolitisches mit glagolitischen, Armenisches mit armenischen, Hebräisches mit hebräischen Lettern, und die Lettern gießen wir selbst. Wir drucken Musiknoten und erotische Gedichte, wir drucken Landkarten und Kochrezepte, Reiseberichte und Ablassformulare, mathematische Abhandlungen und Handzettel zum Verteilen, Bücher über schwarze Magie und Gesetzestexte, jüdische Gebetbücher und politische Satiren, Heiligenlegenden und Schmähschriften.
Sie druckten alles, jedenfalls wurde alles irgendwo gedruckt.
Die Fedele fragte auch hier bis zum Anschlag.
Nein, abgelehnt wird kein Auftrag, kein einziger. Wenn wir es nicht machen … Sie verstehen? Die Auftraggeber von Schmähschriften zahlen am besten, hieß es, umso mehr, je schneller wir drucken.
Schmähschriften gegen wen?
Egal, sagten alle, der Inhalt geht uns nichts an, die Korrektoren haben sich um Satzfehler und Rechtschreibung zu kümmern, basta. Fürs Verbieten und Verbrennen sind die Gerichte da, die von der Zensur oder die von der Inquisition, wir sind für den Kunden da. Für den zählt, dass unterwegs ist, was er verbreiten will. Für immer unterwegs.
Für immer? Auch wenn das Gedruckte im Feuer landet oder im tiefsten Kanal versenkt wird und kein einziges Exemplar mehr aufzutreiben ist?
Ja, auch dann. Hast du jemandem ein tödliches Gift verabreicht, kannst du es nicht mehr zurückholen.
Es war der älteste der Druckereibesitzer, der mir das gesagt hatte, so gelassen, dass ich zu schwitzen begann.
Wie Traubenmost gärte es in mir. Als ich mit der alten Fedele allein war, schoss es den Spund heraus: Das kann doch nicht wahr sein, dass Lügen und Gerüchte nicht totzukriegen sind!
Was weißt du über Marin Falier?, fragte die Fedele.
Was jeder in Venedig über ihn weiß: dass er der dritte Doge aus der Familie Falier war und nicht mehr vom Rat kontrolliert werden wollte.
Was wollte er?
Alleine herrschen.
Wie versuchte er das?
Durch Hochverrat.
Woher weißt du das?
Davon, wie es ausging, und das habe ich oft gehört. Die Mitverschwörer wurden gehenkt, Falier wurde geköpft, der Kopf zwischen seine Füße gelegt.
Wie sah Falier aus?
Wie ein Verräter.
Gibt es ein Bildnis von ihm?
Es hängt golden gerahmt im Dogenpalast neben den Porträts der anderen Dogen, aber es wurde mit einem schwarzen Tuch übermalt.
Warum?
Damit jede Erinnerung an ihn auf immer und ewig gelöscht ist.
Gibt es Prozessakten?
Auch die wurden vernichtet oder verschwanden, weiß jeder in Venedig.
Woher weiß dann jeder in Venedig, dass er wie ein Verräter aussah und des Hochverrats schuldig war?
Weil es seit seinem Tod vor hundertundsoundsoviel Jahren weitererzählt wird.
Obwohl niemand weiß, ob es stimmt?
Als ich dreizehn war, fing die alte Fedele an, nach meinen Zielen zu fragen.
Ich kam nicht bis zum Blondsein. Als ich von einem freien und unabhängigen Leben in den eigenen vier Wänden redete, brach aus ihrem knochigen Körper ein Lachen, das ich ihm nie zugetraut hätte; es hatte Brüste wie unsere Geflügelhändlerin am Rialto, die sprangen aus dem Ausschnitt, wenn sie einer Gans den Kopf abschlug. Mit großer Geste wies einer von Fedeles dürren Armen auf ihren Hausrat; so sähe das dann aus, sagte sie, das freie unabhängige Leben. Mit der Sorte Illusion hatte sie Erfahrung.
Als Sechzehnjährige hatte sie jede Unterhaltung auf Latein führen können, als Siebzehnjährige auf Altgriechisch, worüber und mit wem auch immer. Als sie achtzehn war, hatte einer der Bellini-Brüder sie als Madonna verewigt, und ihr Vater hätte sie am liebsten auf eine Leistungsschau mitgenommen, die gab es jedoch nur für Hengste und Zuchtbullen. Berühmt wurde sie mit zweiundzwanzig; ihr Cousin Lamberto hatte in Padua sein Examen bestanden, sie wurde eingeladen, eine Lobrede auf die Wissenschaften zu halten, selbstverständlich lateinisch, die Rede wurde mit Ovationen gefeiert, zwei Jahre später gedruckt und in Europa verbreitet.
Ich kam damals wie gerufen, sagte die Fedele.
Sie passte ins Konzept von prominenten Wissenschaftlern und Gelehrten, die das Mittelalter zur Welt der Finsternis erklärten, bevölkert von dumpfen, übel riechenden, grausamen, menschenverachtenden Monstern. Die Zeit jetzt, ihre Zeit, verkauften sie als erhellt von Geist, Humanität, Erneuerung und Erkenntnisdrang.
Neu war offenbar die Erkenntnis, dass eine junge Frau denken konnte, und Männer, die ihr das zubilligten, bewiesen damit Geist und Humanität.
Die venezianische Regierung fand, dass ihr Cassandra Fedele ausgezeichnet stand; sie zeigen immer alles her, worauf sie sich etwas einbilden, die ganze Szenerie um den Dogenpalast wirkt wie aufgestellt für die Ankömmlinge, auf dass ihnen die Spucke wegbleibe. Man führte die Fedele bei offiziellen Anlässen vor, vergaß aber über aller Begeisterung nicht, dass sie eine Frau war, also weder Geld noch eine Zukunft brauchte. Als Königin Isabella von Kastilien ihr an ihrem Hof beides bot, untersagte der Doge Cassandra Fedele, die Republik Venedig zu verlassen. Von da an wurde sie nicht mehr für öffentliche Vorführungen engagiert, sie hätte vielleicht gepetzt.
Cassandra heiratete so spät, dass ihre Familie sie auslachte, nicht mehr gebärfähig, was sollte das, und sie haute ab samt Mann nach Kreta.
Ihr Vater sei weise gewesen, sagte die Fedele, als er sie auf den Namen der Seherin aus Troja taufte, die sah, was kommen würde, der aber kein Mensch glaubte.
Mit meiner Mutter redete ich nicht über meine Zukunft, sie glaubte an die göttliche Vorsehung und hoffte, dass ihre unerfüllten Wünsche durch ihr Kind in Erfüllung gingen. Vermutlich hoffen das alle Eltern, die zu kurz gekommen sind. Von den venezianischen Malern, deren Helfer auf der Suche nach einem Madonnenmodell sämtliche Sestieri abgrasten, ob da nicht mitten im Steinernen eine Rose blühte, hatte keiner meine Mutter entdeckt, kein einziger, und das, obwohl der Bedarf an Madonnenbildern in keiner Stadt höher ist als hier. Sogar die lausigen Pinsler, Madonnieri schimpft man sie, werden ihr Zeug los, als Souvenir an Fremde und für den Hausgebrauch.
In jeder Kirche hier gibt es mindestens eine gemalte Muttergottes, in manchen bis zu fünf, und meine Mutter wusste bei denen, die noch nicht zu lange dem Verkündigungsengel zuhörten, im Stallgeruch auf den Säugling starrten, am Kreuz heulten oder auf Wolken gen Himmel fuhren, wer sie waren: die Frau des Dachdeckers hinter Zanipolo, die Tochter des Fischers bei den Zattere, die Nichte des Leichenwäschers am Campo della Bragora.
Verheiratet mit einem der gefragten Maler, hätte ich meiner Mutter vielleicht doch noch zu einem Platz auf irgendeinem Hochaltar oder wenigstens einer Nebenkapelle verhelfen können. Der Tod Mariens wurde auch verewigt, und mit Mitte dreißig wäre sie dafür dann als Modell im richtigen Alter; Maria muss zwar beim Sterben Mitte fünfzig gewesen sein, aber die Maler litten an Jugendsucht wie alle Männer in Venedig; zumindest, wenn es nicht um sie selbst ging. Für Dogen fing die Karriere meistens erst mit achtzig