La Fenice. Lea Singer

La Fenice - Lea Singer


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manchen Fällen wie Trunksucht auswirkte und sogar Künstler unzurechnungsfähig machte. Zu Marias Himmelfahrt, obwohl die erst nach dem Tod möglich war, wurden bestenfalls Neunzehnjährige zugelassen, in wenigen Jahren war auch für mich diese Chance vorbei. Ich selbst hatte von meiner Mutter allerdings nichts geerbt, was madonnenhaft war, schon gar nicht den schamhaften Blick, und der lässt sich nicht lernen. Er buckelt und tastet sich dann von unten nach oben. Eigentlich ist der unschuldige Blick schuldbewusst, wer ist schon unschuldig, ich war mir aber nie einer Schuld bewusst.

      Es gäbe nichts zu beichten, erklärte ich jedes Mal vor dem Spitzenbortengitter, hinter dem einer saß, der ähnlich wie mein Lehrer herausstank; offenbar beschwerte er sich bei meiner Mutter. Sie wusste, was ich verschwieg. Als ich dann beichtete, von meinem frommen Lehrer an den Brüsten und meinem Geschlecht befingert zu werden, wurde ich wegen Verleumdung zu so vielen Rosenkränzen verdonnert, dass ich mir neue Knie hätte kaufen müssen. Trotzdem führte das Erlebnis zu einer inneren Läuterung: Ich beschloss, meiner Mutter nie mehr etwas anzuvertrauen. Wir bewohnten von da an zwei Kontinente, die nichts teilten, schon gar nicht die Sprache, nur wusste sie davon nichts. Legte sie ihre sahnigen Arme um mich und ich atmete ihren Duft ein, diese Mischung aus schwarzer Seife, ein wenig Schweiß, eingekochten Früchten, einem warmen Bett und Rosmarin, war ich manchmal nahe dran, umzufallen, hinein ins weiche Herz ihrer Dummheit. Doch ich blieb standhaft.

      Mein Vater setzte, was meine Zukunft anging, auf eine Heirat mit einem Richter, der dafür sorgen könnte, jene Kollegen, die ihn denunziert hatten, mit einer Anschuldigung aus den Briefkästen zur Strecke zu bringen; auch er träumte offenbar in meinem Gesicht. Altersarmut wie bei Cassandra Fedele kam in den Gedanken der beiden nicht vor.

      Die Sorge meiner Mutter steckte in dem Satz, den sie mir mit jedem Frühstück auftischte: Verschenk dich nicht, Kind, verschenk dich bloß nicht an einen, der dich nicht verdient.

      Ich sah die alte Fedele vor mir. Ihr Mann hatte sie wohl verdient, das hatte aber nicht gereicht.

      Irgendwie kam ich an dem Punkt nicht weiter, auch nicht mit der klugen Fedele.

      Seither, seit ungefähr drei Jahren, hatte ich sie nicht mehr gesehen, und das war mein Fehler.

      Ich war ihr abtrünnig geworden, seit ich ihm begegnet war.

      Die alte Fedele hatte mich vor ihm gewarnt, und sie wusste vieles von mir, nicht aber, wie Warnungen auf mich wirkten. Kein Vorbild, der Mann, aber verantwortlich für die wesentliche Entscheidung meines Lebens.

      Er kam mir um die Ecke herum entgegen auf dem Campo von San Zanipolo, wo ich gerade mal wieder nichts gebeichtet hatte. Ich hörte ihn, seine maronenbraune Stimme, bevor ich ihn sah.

      Mein Bett wäre unter ihm zusammengebrochen, und sein Mantel mit den goldenen Borten hätte einen Wandbehang abgegeben, für den bei uns zu Hause keine Wand breit genug gewesen wäre. Das schwarze Bartgestrüpp reichte bis zu den Schlüsselbeinen, und die langen schwarzen Haare hatte er mit einem orientalischen Schal hochgebunden. Auf der Brust glänzte ein fettes Goldmedaillon, an einem Ohr baumelte ein Klunker, so groß und so rot wie eine Kirsche, Glas war das nicht. Er brachte den Platz zum Dröhnen.

      Erst eineinhalb Jahre war es damals her, dass Aretino nach Venedig gezogen war, das Pflaster in Rom war ihm zu heiß geworden. Längst kannte ihn hier jeder, er galt als so etwas wie ein Gegen-Doge, fürstlicher, weil er prächtiger war, Geld verschenkte, anstatt es zu kassieren, und weil keiner ihn kontrollieren konnte. Einen Satz von ihm reichten sich die Venezianer weiter wie den Klingelbeutel in der Kirche. Ich bin wirklich ein König, ich kann mich selbst beherrschen. Ich hatte den Satz eingepackt und trug ihn mit mir herum, ohne zu wissen, was ich damit anfangen sollte, doch ich war sicher, irgendwann würde ich ihn brauchen können.

      Alles, was ich über Aretino wusste, verdankte ich der alten Fedele.

      Sein Woher war noch weniger beeindruckend als meines. Sein Vater, hieß es, sei ein Schuster im toskanischen Arezzo gewesen, der aus gutem Grund fast nichts verdiente; seiner Mutter hatte man, nach Ansicht der Fedele ohne jeden Beweis, einen zweifelhaften Ruf angehängt. Schulbildung besaß er angeblich überhaupt keine, und gelernt hatte er den Beruf des Buchbinders, was ehrenwert war, dafür schäbig bezahlt und aussichtslos, das schien typisch fürs Ehrenwerte zu sein. Aber schon mit Ende zwanzig hatte er sich zu einem Schriftsteller hochgearbeitet. Seinen Künstlernamen leitete er von seiner Geburtsstadt ab.

      Aretino gelang der Durchbruch, hatte die Fedele erzählt, als das Lieblingstier des Papstes starb, ein Elefant; er starb an Halsentzündung und Durchfall nach einer Überdosis Abführmitteln. Papst Leo X. hatte ihn seinen Leoparden und sogar den Chamäleons vorgezogen. Aretino gab blitzschnell Das Testament des Elefanten heraus, eine Schlüsselgeschichte über die Zustände im Vatikan. Der Schlüssel lag bei.

      Fast jeder in Rom ahnte, dass es dort abartig zuging, Aretino überraschte sie alle. Die Ahnungen waren Heiligenlegenden gegen das, was er haargenau berichtete. Er wusste, welcher Würdenträger in welchem Bordell Stammgast war, welcher Kardinal sich durch welche Korruptionsgeschäfte, Unterschlagungen oder Geldwäschen bereichert hatte und wer von den Bischöfen sich nach seinen Predigten mit angelieferten minderjährigen Knaben erholte. Aretino wurde mit Inbrunst geliebt und bis aufs Blut gehasst, also mehr gelesen als irgendein anderer seiner Generation. Das sei wohl das Erfolgsrezept der Zukunft, schwante der Fedele, Aufmerksamkeit erregen, egal mit welchen Mitteln. Hauptsache, möglichst viele zerreißen sich das Maul über dich. Eine Figur musst du sein, kein Charakter. Es wird nur noch zählen, prophezeite sie, wie viele hinter dir dreinrennen, nicht welche. Kein Zweifel, sie würde nicht hinter Aretino herrennen, auch nicht, wenn sie vierzig Jahre jünger wäre.

      Als das Testament erschien, war Aretino bereits bekannt wie ein bunter Hund. Dank einer Statue, nach der sich ohne ihn und ein paar andere mit messerscharfen Zungen kein Mensch umgedreht hätte. Eh ein Wunder, dass man diese Figur aus dem Bauschutt gezogen hatte, sie war so verstümmelt, dass keiner sagen konnte, wen sie zeigte, nur dass es ein nackter Bewaffneter war.

      Seit der Mann ohne Arme und Beine an der Nordwestecke des Palazzo Braschi stand, nahe der Piazza Navona, stauten sich jeden Tag die Leute um ihn. Den Kriegskrüppel nannten ihn seine Feinde, alle anderen sagten Pasquino zu ihm, angeblich nach einem Lehrer dieses Namens am Gymnasium, der auf Handzetteln seine Kommentare zu Politik und Kirche verbreitete. Die waren derart brenzlig, dass sie sich wie ein Lauffeuer unter den Leuten aus dem Volk verbreitet hätten, aber die Leute aus dem Volk verstanden die Kommentare nicht; sie waren auf Latein verfasst. Die Männer da oben erklärten denen unten, Pasquino sei ein schamloser Lügner, wie angstvoll sie aber seinen Einfluss fürchteten, bekam jeder mit. Pasquinos Leiche muss noch warm gewesen sein, schon ließen sie sein Haus mit allem drin abreißen. Half nichts. Einem Bauarbeiter fiel beim Wegschaffen des Schutts auf, dass die Türschwelle der Rücken einer antiken Statue war. Pasquino feierte Auferstehung. Der Torso wurde aufgestellt und machte in seinem Namen für ihn weiter. Wer etwas gegen die da oben zu sagen hatte, konnte daran Zettel mit neuesten Skandalnachrichten und Schmähschriften festkleben. Keiner klebte mehr als Aretino, nicht auf Latein, sondern auf Italienisch. Jeder verstand seine Texte, jeder erzählte sie weiter.

      Damit die Wahrheit endlich wieder nackt war, nur dann kann jeder ihre angeborenen Schwachstellen erkennen, schön muss die Wahrheit ja nicht sein und ist sie oft nicht, sagte die alte Fedele, riss Aretino ihr alles vom Leib, womit die Stellvertreter Gottes und ihre Verbündeten sie kostümiert hatten.

      Das imponierte ihr, das Übrige weniger oder gar nicht.

      Man könne sich ausrechnen, sagte sie, warum Aretino trotzdem Stammgast war auf den Gartenfesten der Bankdirektoren, den Galaveranstaltungen der Fürsten und beim Papst. Es sei das kleinere Übel, ihn zum Freund zu haben, als zum Feind. Er verdiene sein Geld nicht nur damit, dass er unliebsame Wahrheiten verbreitete, sondern genauso damit, dass er sie gegen Bezahlung zurückhielt. Man könnte das auch Erpressung nennen.

      Du wirst ungefähr sechs gewesen sein, sagte sie, als der Elefantenpapst überraschend starb, angeblich an einer fiebrigen Erkrankung. Wie es um den päpstlichen Haushalt stand, zeigte sein Begräbnis. Es mussten sogar halb heruntergebrannte Kerzen verwendet werden. Er hatte den Etat der drei nächsten Päpste bereits aufgebraucht.

      Verse,


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