La Fenice. Lea Singer
hatte, einzulassen. Überall.
Es war meine Wut, die jede Art von Reue verbellte, die Wut darüber, dass als unvernünftig galt, was ich getan hatte.
Zwischen sechs und sieben war ich, als ich sie kennenlernte, fast genau zehn Jahre bevor das geschah, was ich jetzt mit überreifen dreiundzwanzig endlich aufschreibe. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind übrigens kein Zufall, und dass alle Beteiligten noch am Leben sind, macht meine Geschichte spannender.
Ich lungerte vor der Haustür herum und probierte im Schatten, auf den Fingern zu pfeifen. Sie war mager und fahl wie ein Straßenhund, der seit Wochen nichts gegessen hatte, ein Sack voller Knochen, der zu klappern schien, und lief mit Büchern unter dem Arm vorbei, die ihr beinahe aufs Pflaster gekracht wären. Direkt bei mir blieb sie stehen, stöhnte nicht, versuchte aber angestrengt, den Griff um die Bücher zu ändern.
Warum schleppen Sie die schweren Bücher?, fragte ich.
Ich setze meine Studien fort, sagte sie, ging in die Hocke, erstaunlich schnell, zerrte mit der freien Hand ein Tuch von den Schultern, ließ es auf den Boden fallen, schob die Ecken auseinander, legte die Bücher drauf und packte sie in das Tuch ein.
Mir war gleich klar, dass sie log. Frauen studieren nicht.
Sie musste etwas jünger sein als meine Urgroßmutter, noch keine sechzig.
Als sie das Bündel am Knoten hochziehen wollte, knickte sie um.
Mein Mann ist letzte Woche gestorben, sagte sie, griff wieder nach dem Buchpaket und wankte davon.
Als ich meinem Vater von der Lügnerin erzählte, die wahrscheinlich gestohlene Bücher zu einem Hehler geschafft hatte, sagte er: Das kann nur die alte Fedele gewesen sein. Sie war einmal berühmt und hat anscheinend noch immer rund ums Jahr mit Briefschreiben zu tun, weil alle möglichen Adligen und Gelehrten mit ihr korrespondieren. Wenn ein weiblicher Staatsgast kommt, wird sie manchmal geholt, um die Begrüßungsrede zu halten.
Er wusste ihren Vornamen und schüttelte sich, wie ein Vater nur auf so etwas verfallen konnte – Cassandra.
Dass eine Frau, die einmal berühmt gewesen war, wie ein Straßenhund daherschlich, niemanden kannte, der ihr half, und nichts Besseres zu tun hatte, als Bücher nach Hause zu schleppen, ratterte in meinem Schädel, bis er wehtat.
Keine Woche später kam sie wieder vorbei. Ich hatte zum Spielen eine aufgeblasene getrocknete Schweinsblase gekriegt, aber es war niemand da, dem ich sie auf den Kopf schlagen konnte, also schlug ich damit gegen die Hauswand und langweilte mich.
Ich bot der alten Frau an, zwei Bücher zu tragen. Hätte ich geahnt, wie weit es zu ihr nach Hause war, ich hätte es bleiben lassen. Nah am Ghetto waren die Mieten fast so niedrig wie die Zimmer. Das Haus am Rio della Misericordia sah schon von außen krank aus. Im Eingang roch ich den Schimmel in den Wänden. Die alte Fedele wohnte im Erdgeschoss. Sie öffnete die Tür ohne Schlüssel. Bücher stiehlt hier in dieser Ecke keiner, sagte sie. Modergeruch wehte mir entgegen. Die alte Fedele dankte und kickte mit dem Fuß die Tür hinter sich zu.
Selbst schuld, dass ihre Möbel im Hochwasser geschwommen sind. Im Erdgeschoss wohnt man in Venedig nicht. Meine Mutter wusste, was sich gehörte.
Ich hätte ihr besser verschwiegen, wie die alte Fedele hauste, nun roch sie es, wenn ich bei ihr gewesen war. Meine Mutter misstraute ihr, als wäre sie eine Versucherin.
Was habt ihr geredet?
Nichts, log ich, sie hat mir vorgelesen.
Die alte Fedele besaß drei Wände voll Bücher, eine Leiter, ein Bett, einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen Herd; ich saß immer am Fuß der Leiter, sie hinter ihrem Schreibtisch. Von dort schoss sie Fragen ab wie Walnüsse, sie aufzuknacken war meine Sache.
Was macht diese Stadt?, fragte sie.
Ich wusste es nicht.
… diese Stadt mitten im Wasser.
Sie spiegelt sich.
Wann und wie oft?
Dauernd.
Was passiert, wenn ein Mensch tagaus, tagein in den Spiegel starrt?
Ich denke, er wird verrückt.
Antworten gab sie so gut wie nie.
Irgendwann warf sie sich auf die Männer von Venedig.
Was fällt dir zu ihnen ein?
Sie sind mutig.
Warum sind sie mutig?
Weil sie alles riskieren, um Venedig stolz und reich zu machen, also weil sie zum Beispiel die Reliquie von San Marco aus Alexandria hierhergebracht haben.
Das hatte mein Vater mir erzählt. Erst durch die Gebeine von Marco konnte sich das Bistum Venedig gegen das von Aquileia behaupten; die Venezianer hatten zwar schon die Reste von Tòdaro, irgendeinem griechischen Krieger und Märtyrer, aber nun endlich etwas Exklusives, einen der vier Evangelisten. Ich fand es schwachsinnig, dass durch ein paar alte Knochen ein Ort wichtig wurde, trotzdem, die Kerle hatten ihrer Heimat damit eine Art Heiligenschein verschafft.
Wem gehörte die Reliquie zuvor?, fragte die Fedele.
Alexandria … also vermutlich den Ägyptern.
Wie haben die Venezianer die Reliquie in ihren Besitz gebracht?
Zwei Männer namens Rusticus und Tribunus haben sie erbeutet.
Aber die Venezianer führten doch keinen Krieg dort.
Dann eben den Muslimen abgekauft.
Hätten sie die Gebeine in diesem Fall unter Schweinefleisch, das kein Muslim berühren darf, außer Landes geschmuggelt?
Dann können sie die Knochen nur gestohlen haben.
Die Fedele war zufrieden.
… im Auftrag der Regierung.
Mit acht konnte ich dank der alten Fedele lesen, mit neun wusste ich dank der alten Fedele, was Venedig ausschließlich seinen eigenen Söhnen zu verdanken hatte. Sie hatten die Methode erfunden, eine Stadt im Wasser zu bauen, die Einkommensteuer, die offizielle Denunziation, die Herstellung von flachen Spiegeln, die schnellste Druckerpresse und die schnellste Galeere, die totale Kontrolle eines Staatsoberhaupts, den Suezkanal, den der Sultan allerdings nicht baute, das mundgeblasene Glas, Schuhe mit derart hohen Absätzen, dass keine Frau ohne Hilfe von zwei Begleitern darauf gehen konnte, den Patentschutz, die Großproduktion von Brillen und eine internationale Fahndungskommission mit Lizenz zum Töten flüchtiger Geheimnisträger. Sie hatten aus Jaffa die Überreste des heiligen Nicolò geraubt, weil auch die Seeleute einen Schutzpatron zu Hause haben wollten, und aus Byzanz die des heiligen Tòdaro; den, sagte Fedele, brauchte man in ihrer Kindheit noch, weil er für die Rückführung entlaufener Sklaven sorgte, mit denen die venezianischen Händler damals ordentlich Geld machten.
Die Venezianer, sagte die alte Fedele, handelten immer nach dem Vorsatz: Venedig zuerst. Das kam gut an. Sie stahlen aus Tiryns auf der Peloponnes Schiffsladungen von Reliquien und bestückten die Markuskirche mit dem, was sie in Konstantinopel nach der Abschlachtung der Einwohner hatten mitgehen lassen. Die Pferde aus dem Hippodrom, die seit Langem die Fassade schmücken, die Ikone der Madonna Nicopeia, die als wundertätig galt, ein Stück des Wahren Kreuzes, das Kaiser Konstantin gehört haben sollte, die beiden frei stehenden Säulen auf dem Markusplatz, zwischen denen gefoltert und hingerichtet wurde, außerdem alles, was man für den Domschatz so brauchen konnte an Gold, Edelsteinen, Kelchen und Emailarbeiten.
Die alte Fedele sah Venedig anders als die übrigen Venezianer, weil sie es jahrelang von Kreta aus betrachtet hatte – gehörte zwar zum Staat Venedig, hatte aber nichts damit gemeinsam. Auf dem Rückweg von der Insel hatten sie und ihr Mann, ein Arzt, ihren gesamten Besitz durch einen Schiffsunfall ans Meer verloren, die gewonnenen Einsichten aber waren nicht mit abgesoffen. Kam ich zu ihr, nahm sie die Brille ab. Damit ich dich unscharf sehe, sagte sie.
Als ich zehn war, begann sie ihre Spaziergänge mit mir