Wir sind die Flut. Annette Mierswa

Wir sind die Flut - Annette Mierswa


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Hand.

      »Leben«, presste ich hervor. »Natürlich leben.«

      »Eben.« Und zack, hatte sie Poppy die Spritze in ihr weiches Hinterteil gesteckt. Poppy zuckte kaum merklich, während ich immer hysterischer wurde.

      »O mein Gott, Poppy!« Ich drückte sie an mich und zitterte wie verrückt. Die Tür flog auf. Ute. Leons Mutter.

      »Avi, meine Süße.« Sie stürzte auf mich zu und umarmte mich. »Ich hab es gerade gehört.« Dann sah sie Frau Rusowski, die noch die Spritze in der Hand hatte. »Ah, Sybill, zum Glück hast du alles da.« Sie klopfte auf ihre Tasche und lachte übertrieben. »Ich hab vorsichtshalber auch alles dabei.«

      »Ist schon erledigt.« Die Frauen umarmten sich wie alte Freundinnen. Ich nahm es verblüfft zur Kenntnis.

      »Ich …« Ute blickte Sybill traurig an.

      »Ich weiß«, sagte diese. »Du musst nichts sagen.« Sie zeigte auf eine bestickte Decke, die an der Wand hing: Ein fröhlich Gesicht ist das beste Gericht.

      Ute lächelte traurig. »Ach, Sybill.«

      Sybill lächelte zurück. Ich kapierte nichts. Was ging hier eigentlich vor? Kruso stand neben mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Meinen fragenden Blick beantwortete er mit einem Lächeln. Waren die alle irre?

      Leon kam herein. Endlich jemand, auf den ich mich verlassen konnte. Er blickte unsicher umher, bis er Poppy gefunden hatte. »Und? Wie geht’s ihm?«

      »Ich glaube, ihr geht’s besser.« Poppy atmete regelmäßig und schien zu schlafen. Leon lächelte. Seine hellen Augen funkelten wie Sterne in dieser düsteren Küche. Und dann erloschen die Funken plötzlich, als sein Blick auf Krusos Hand fiel, die immer noch wie selbstverständlich auf meiner Schulter lag. Er sah mich fragend an.

      »Zum Glück hat Kruso gleich geholfen«, sagte ich entschuldigend. Dabei gab es doch nichts zu entschuldigen. Es schien aber so, als wäre in diesem Moment ein Schatten über Leon gefallen, ein merkwürdig eisiger Schatten, der ihn in etwas unheimlich Fremdes tauchte.

      »Wir bringen die beiden wohl besser nach Hause.« Ute strich mir über die freie Schulter. »Danke, dass du sofort zur Stelle warst.« Sie lächelte Kruso an, der endlich seine Hand herunternahm, als hätte er nur auf eine Ablösung gewartet.

      »Nicht zum Tierarzt?« Ich strich Poppys Fell aus ihrem Gesicht. Sie hatte die Augen nur halb geöffnet, atmete aber ruhig und regelmäßig.

      »Nein, nein«, sagte Ute, »ich geb dir noch was zur Weiterbehandlung. Sybill hat schon alles Nötige eingeleitet. Kann ich kurz euer Auto nehmen?«

      »Sicher.« Die beiden waren so vertraut miteinander, dass ich überhaupt nicht verstand, warum Leon so über Rusowskis Hof lästerte und in der Schule kein Wort mit Kruso sprach.

      Wir gingen alle nach draußen. Leon half den Frauen, das Auto auszuräumen, während Kruso für Poppy Decken in ein Körbchen legte. Da fiel mein Blick durch das Scheunentor auf den Rumpf eines Bootes und ich erinnerte mich plötzlich daran, dass ich ja einen Auftrag zu erfüllen hatte. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig, aber wann, wenn nicht jetzt? Am nächsten Tag sollte ich der Gruppe schon Bericht erstatten.

      »Die Arche?«

      »Ja.«

      »Ich bin jetzt in der Gruppe, die diese Aktion in der Schule organisiert hat.« Er schwieg. »Wir haben eine coole Idee, etwas, das wirklich aufrütteln könnte.« Eine Krähe flog über uns hinweg und kreischte. Kruso blickte ihr nach. »Also, wir wollen auswandern, symbolisch, und ein Zeltdorf errichten, an einer Stelle, die später eine Insel werden wird …« Nun blickte Kruso mich endlich an. »Hier.«

      »Ja«, sagte er und lächelte.

      »Ja?«

      »Gute Idee.« Er nahm den Korb und stellte ihn auf die Rückbank des Autos.

      »Alles einsteigen.« Ute hielt mir die Tür auf.

      »Wann?« Kruso lief um den Wagen herum auf mich zu. »Wegen der Vorbereitung.«

      »Was für eine Vorbereitung?« Leon blickte uns abwechselnd an.

      »Erklär ich dir später.« Ich tauchte im Wagen ab und legte Poppy ins Körbchen. »Sonntag in einer Woche.«

      »Sonntag«, wiederholte Kruso. »Abgemacht.«

      Und dann fuhren wir los.

      »Warum willst du dich denn mit dem treffen? Wenn’s um dein Referat geht, kannst du auch mich fragen.« Leon war richtig aufgebracht und fauchte wie ein Löwe.

      »Mit dem?«, mischte sich Ute ein. »Der heißt Karl oder eben Kruso, okay?« Sie klang auch gereizt. Leon warf sich genervt in die Lehne.

      »Darum geht es gar nicht«, wand ich mich heraus. »Das Referat ist ja schon am Montag.«

      »Worum dann?«

      Ich beugte mich über Poppy. »Ist ja gut, meine Süße.« Ich musste Zeit schinden. Vor Ute wollte ich auf keinen Fall darüber reden. Sie würde sofort meine Eltern informieren. Und die wären ganz und gar nicht begeistert von der Aktion und würden mir bestimmt verbieten, zwei Wochen die Schule zu schwänzen. Leon drehte sich zu mir um. Getrübter Horizont in seinem Blick. Ich zog verschwörerisch die Augenbrauen hoch. Er nickte. Zum Glück kannte er mich so gut und verstand sofort, worum es ging.

      Erst als ich wieder zu Hause in meinem Zimmer war, allein mit Poppy, die noch immer zusammengerollt in Krusos Körbchen lag, kam eine Nachricht von Leon: Und?

      Ich rief ihn gleich an. »Die Aktivisten aus unserer Schule wollen auf Krusos Acker ein Zeltdorf errichten, für zwei Wochen, um auf den steigenden Meeresspiegel aufmerksam zu machen. Bei zwei Grad Temperaturanstieg wäre das Plateau eine Insel.«

      Leon lachte. »Nicht euer Ernst, oder?« Ich schwieg. Leons Lachen verebbte. »Und du vermittelst?«

      »Ja«, sagte ich bestimmt. »Aber ich mache auch mit.«

      »Was? Das erlaubt die Schule niemals.«

      Natürlich würde sie es nicht erlauben, aber ich hatte keine Wahl. Sollte ich lieber Psycho-Pillen schlucken, um nicht zu verzweifeln? Das Protestcamp war meine Therapie und ein kleiner Beitrag zur Rettung der Welt. So sah es aus. Und es bestand auch immerhin die Hoffnung, dass wir etwas bewirken würden.

      »Nein«, sagte Leon, als er verstand, dass ich es ernst meinte. Und es klang so enttäuscht, als hätte ich gerade unsere Freundschaft aufgekündigt.

      »Doch. Und ich hoffe, du machst auch mit.« Ich wusste schon, dass er Nein sagen würde, aber ich wollte ihm wenigstens zeigen, dass ich ihn dabeihaben wollte.

      Leon lachte. Aber diesmal klang es kühl und fremd. »Jetzt hab ich extra dieses blöde Referatsthema genommen, damit du dich da nicht weiter reinsteigerst, und was machst du?« Er wurde immer ärgerlicher. »Willst bei dem Assi zelten. Ich glaub es nicht.«

      »Kruso ist alles andere als ein Assi. Wenn du so über ihn sprichst, bist du der Assi!«

      Leon war weg, hatte einfach das Gespräch beendet. Ich starrte fassungslos in seine wasserblauen Augen, die mich von meinem Display aus anstrahlten. Verdammt. Ich dachte an das Deckchen in Krusos Küche: Wenn du im Herzen Frieden hast, wird dir die Hütte zum Palast. Meine Hütte dagegen war nun auch noch einsturzgefährdet.

      10

      Das ganze Wochenende über arbeitete ich an meinem Referat. Ich recherchierte im Internet und sah mir Dokus an. Leon fragte ich nicht mehr. Der sollte ruhig ein wenig schmoren nach seiner Entgleisung. Montag würde sich das sicher wieder einrenken. So war es bisher immer gewesen, wenn wir Stress gehabt hatten, und das kam fast nie vor.

      Nur Alice rief mich an, und zwar ausgerechnet, als ich mit meinen Eltern am Tisch saß.

      »Hi, Ava. Gibt’s schon was Neues?«

      »Hm«, murmelte


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