Triceratops. Stephan Roiss

Triceratops - Stephan Roiss


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Sie prüfte die Temperatur des Wassers, wir mussten uns in die Wanne legen.

      »Ich mache Kakao«, sagte unsere Schwester und verschwand nach oben.

      Ein paar Minuten später gab es einen Stromausfall. Mit einem Mal lagen wir in völliger Dunkelheit. Von nun an wollten wir immer ohne Licht baden. Manchmal ließen wir ein Teelicht flackern.

      »Deine Schwester kann schon auf sich selbst aufpassen, aber noch nicht auf dich«, sagte Vater, als er heimkam.

      Wenn Mutter in der Klinik bleiben und Vater arbeiten musste, brauchte es von nun an immer einen Erwachsenen, der nach der Schule auf uns aufpasste: unsere Tante oder die Nachbarin. War schulfrei, brachte Vater uns zu seiner Mutter. Unsere Schwester weigerte sich bei der Aschbach-Großmutter zu übernachten. Sie ekelte sich vor den fetten Fleischfliegen in der Stube und fand, dass die Bettwäsche nach Kuhfladen stank. Gelegentlich nahm sich Vater Urlaub. Er konnte nichts kochen außer Frankfurter.

      VATER SETZTE UNS mit einer Sporttasche voller Gewand in Aschbach ab. Großmutter winkte Vaters Auto nach, der Kater schnupperte an unseren Schuhen. Der Boden im Hof war gesprenkelt mit Hühnerkot, vor der Stallmauer wölbten sich Inseln aus hart gewordenem Schnee. In der Stube goss uns Großmutter einen Löffel Ribiselmarmelade mit kaltem Wasser auf und schenkte sich ein großes Glas Most ein. Das Gulasch auf dem Herd schlug Blasen. Die Hauptspeise wurde aus demselben Teller gegessen wie die Suppe davor und der Grießkoch danach. Am Abend schaute uns Großmutter beim Zeichnen zu, schlief im Sitzen ein, erwachte wieder, füllte ihr Glas auf und erzählte. Früher hatten zum Haus Getreidefelder gehört, und der Stall war voller Tiere gewesen. Heute war der Misthaufen seinen Namen nicht mehr wert. Unser Onkel, Vaters jüngerer Bruder, hatte nach Großvaters Tod den Betrieb übernommen, aber bald genug von der Landwirtschaft gehabt, und war mit seiner Frau in die Schweiz ausgewandert. Ein paar Kühe und die Hühner hatte sich Großmutter behalten. Sie brauchte etwas Leben um sich herum. Nur drei ihrer Kinder hatten das Erwachsenenalter erreicht. Die anderen drei waren jung gestorben. Eines hatte den Schlitten über den gefrorenen Tümpel gezogen und war ins Eis eingebrochen, eines hatte verdorbene Würste gegessen, eines war behindert zur Welt gekommen und in der Nacht nach seiner Taufe nicht mehr aufgewacht.

      Wir liefen in der Spur der Rodel, die ohne uns losgesaust war und nun am Fuß des Friedhofsberges stand, die Kufen halb im Schnee und halb im Gras. Wir schlitterten über eine glatte Stelle, fielen hin, legten uns quer zum Hang und ließen uns das letzte Stück hinunterrollen. Dabei rutschte unser Anorak hoch. Beißende Kälte. Mutter hätte uns geschimpft, weil wir nicht den Skioverall angezogen hatten. Als wir uns neben der Rodel aufrichteten, fielen wir gleich wieder um. Halb, weil uns so schwindlig war, und halb, weil wir es nicht anders wollten.

      »Das heißt nicht Plüschiater«, sagte die Aschbach-Großmutter.

      Sie schlug die Sohlen unserer Winterschuhe gegeneinander, Schneekristalle spritzten auf ihren Kittel, es hallte im Hof.

      »Das heißt Psychiater«, sagte sie und entfernte mit ihren gelben Fingernägeln Labkrautsamen aus den Klettverschlüssen. »Und davon gibt es schon genug auf der Welt. Willst du nicht lieber Pfarrer werden?«

      Die alte Laterne schwankte. Der Wind beugte die Wipfel der beiden Kastanienbäume und drückte die Flügel des Hoftores auf. Wir schauten hinaus in die Düsternis. Wir warteten darauf, dass die Hügel zerreißen, dass ein Feuerturm aus dem gefrorenen Acker bricht und den Nachthimmel erleuchtet, in weiten Bögen Gestein in die Bäche geschleudert wird, während sich ein Drache aus den Schatten vor uns löst und das Wort an uns richtet, ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab. Die Wolkendecke knisterte.

      »Morgen kommt Mutter wieder heim«, sagte Vater am Telefon. »Nach dem Frühstück hole ich dich ab und dann fahren wir gemeinsam zu ihr. Geht es dir gut?«

      Großmutter zwängte ihr offenes Bein in eine braune Stützstrumpfhose. Der Kater schärfte seinen Krallen an einem Holzscheit. Die Gasflammen des Herdes zischten.

      »Ja.«

      In der Nacht schlichen wir in die Stube, nippten am Most, spuckten aus, naschten vom Rhabarberkuchen und malten bei Kerzenschein Monster in unser Heimatkundeheft: eine Riesenspinne, ein Gespenst mit neun Herzen und zuletzt einen Kampfroboter, der brennende Fische abfeuern kann. Hatten wir ein Monster fertiggemalt, schrieben wir seinen Namen über das Bild: Oktama, Egonil, KRX-2000. Unter dem Bild notierten wir, wo das Monster zu finden ist: Rattenhaus, Kalter Urwald, Galaxis. Wir bliesen die Kerze aus und beobachteten, wie der Rauch vom Docht aufstieg, sich kräuselte, verblasste.

      Auf dem Weg zurück in unser Zimmer wollten wir mit dem Fuß ein welkes Blatt zur Seite wischen, das mitten auf dem Gang lag. Doch als wir es anstießen, löste sich ein Ärmchen aus dem dunklen Fleck und ein kleiner Flügel spannte sich auf. Uns entfuhr ein Schrei, wir zogen den Fuß zurück. Die Fledermaus hob ein wenig ihren Kopf. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. In wenigen Sekunden würde das Licht angehen, die Schlafzimmertür sich öffnen und die Großmutter den Reisigbesen aus der Küche holen.

      »Ihr habt mir so gefehlt«, sagte Mutter, stellte ihren Koffer auf dem Asphalt ab, ging in die Hocke, schloss erst unsere Schwester, danach uns in ihre Arme. In einer Pfütze des Parkplatzes spiegelte sich eine Wolke, die wie ein Einhorn aussah. Wir blickten hoch, Mutter drückte unseren Kopf zurück an ihre knochige Schulter.

      »Ihr habt mir so gefehlt.«

      AUF DEM PFARRPLATZ gab es vier Beete mit geflammten Tulpen. In der Kirche roch es nach Stein. Vater hob uns hoch, wir tauchten die Finger ins Weihwasserbecken. Zu beiden Seiten des Altarraumes steckten Ziffern in hölzernen Schienen.

      »Das sind die Nummern der Lieder, die wir heute singen«, sagte Mutter, als sie sich neben uns in die Kirchenbank setzte, und reichte uns das Gotteslob.

      Wir suchten die Lieder im Buch und legten bunte Lesebändchen zwischen die Seiten. Rot, violett, grün, gelb.

      »Brav.«

      Während der Messe starrten uns geflügelte Kreaturen an: ein Adler, ein Löwe, ein Stier, ein Mensch. Mit Vogelfuß, Pranke, Huf und Hand deuteten sie auf goldene Schriftrollen. Wir zupften am Ärmel von Mutters Bluse. Mutter beugte sich zu uns.

      »Wieso ist das Bild zersplittert?«, fragten wir und zeigten in die Mauernische, aus der uns die vier Wesen anblickten.

      Mutter gab uns einen Kuss auf die Schläfe. »Das Bild ist nicht zersplittert«, flüsterte sie. »Das gehört so. Das nennt man Mosaik. Das sind viele kleine Steinchen, die gemeinsam ein Ganzes ergeben.«

      Die Kirchgänger raunten im Chor: »Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld«, und klopften sich dabei dreimal mit der Faust gegen die Brust.

      Unsere Lider wurden schwer. Wir betteten den Kopf auf Mutters Oberschenkel. Gegen Ende der Messe weckte uns Vater und schritt mit uns durch den Mittelgang nach vorne. Der Pfarrer legte den alten Frauen die Hostie auf die Zunge und unserem Vater in die Hand. Wir bekamen ein Kreuzzeichen auf die Stirn.

      »Was suchst du denn?«, fragte uns der Mann am Empfang der Pfarrbibliothek.

      »Er will etwas Fantastisches«, antwortete Mutter für uns. Der Mann nahm Die kleine Hexe aus dem Regal. Wir verließen die Bibliothek mit fünfhundert Seiten Drachenfeuer unterm Arm, lasen die Hälfte des ersten Kapitels und holten uns eine Woche später, nach dem nächsten Kirchenbesuch, Die Nebel von Avalon. Fragte uns jemand, worum es in einem der Bücher ging, erzählten wir nach, was auf den ersten zehn Seiten stand, und sponnen die Geschichte dann weiter, indem wir irgendeinen Zeichentrickfilm zusammenfassten, den wir kürzlich gesehen hatten, oder wir beschrieben ganz genau, wie der Zauberer, die Zwergenstadt, die Streitaxt der Trollkönigin aussahen. Unseren Eltern fiel nicht auf, dass wir nur vorgaben, diese dicken Bücher zu lesen. Mutter las Beipackzettel und Kalorientabellen, Vater die Evangelien und Teletext.

      DIE KREIDESTRICHE ÜBER der Haustür waren kaum noch zu sehen: C + M + B. Vater betrat in kurzer Hose den Vorgarten und bückte sich nach Äpfeln. Bald umkreisten Wespen den


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