Triceratops. Stephan Roiss
Mutter.
»Vater humpelt doch nicht«, sagte sie.
Sie drehte sich zu den Gladiolen um und pustete Nagelstaub von ihren Fingerspitzen. Zwischen den verblühten Blumen saß eine Fliege auf einem Schneckenhaus und rieb die Vorderbeinchen aneinander. Vater hob den vollen Kübel hoch und verschwand damit in der Garage.
»Seine rechte Wade ist dünner als seine linke«, sagte Mutter.
ALS DER KATER auf ihren Schoß sprang, öffnete die Aschbach-Großmutter die Augen. Der Kater rollte sich ein und schnurrte. Großmutter griff nach ihrem Glas und lächelte.
»Dein Vater«, sagte sie, »war ein kleiner Kämpfer.«
Wir nahmen einen neuen Filzstift zur Hand und malten dem Werwolf grasgrüne Tatzen.
Vaters Kinderlähmung war spät erkannt worden, und Großvater, mittellos und stur, hatte verhindert, dass sein Sohn ins Krankenhaus kam. Für den Nachbarsbuben, der an der gleichen Krankheit litt, begann bald ein Leben im Rollstuhl. Am Ende bestanden seine Unterschenkel nur mehr aus Haut und Knochen. Vater hatte zu seinem dritten Geburtstag einen Dreiradler geschenkt bekommen. Tagein, tagaus fuhr er damit herum, über den Hof, in der Scheune, rund um den Tümpel, auf den Feldwegen, so weit er durfte auf der Straße, bis zum Marterl und wieder zurück, und eines Tages hörten seine Muskeln auf zu schrumpfen.
Mit fünfzehn ging Vater aus Aschbach fort, besuchte als Bauernkind eine städtische Schule und schaffte die Matura. Den Hof überließ er seinem jüngeren Bruder. Nach zehn Jahren in einem Büro der Bundesbahnen beschloss er zu studieren. In dieser Zeit lernte er auf einem Volksfest in Klaff eine gertenschlanke Frau kennen, die schallend lachte und auch noch tanzte, als es keine Musik mehr gab. Zwei Monate später fragte er diese Frau hinter dem Glashaus des Botanischen Gartens, ob sie die Mutter seiner Kinder werden wolle. Am 13. Mai 1977 stand Vater im Kreißsaal und erblickte seine neugeborene Tochter. Sie war drei Wochen zu früh auf die Welt gekommen. Die Krankenschwester legte den kleinen Körper an Mutters Brust und sagte, dass alles in Ordnung ist. Das Kind sei gesund.
»Aber deine Mutter fühlte nichts«, sagte Großmutter und wischte sich Most vom Kinn. »So etwas gibt es.«
Vater hatte sein Studium nie begonnen. Ein zweites Kind war nicht in Frage gekommen. Wir waren ein Unfall.
UNSERE SCHWESTER NAHM Anlauf, lief durch die offene Tür ins Schlafzimmer der Eltern, sprang über einen Schemel und landete auf den Decken des Ehebetts. Wir wollten es ihr gleichtun, nahmen ebenfalls Anlauf, liefen durch den Türrahmen, sprangen ab, blieben mit dem Fuß an dem Schemel hängen und schlugen mit dem Gesicht gegen die Bettkante.
Eine kleine Narbe unter der linken Braue erinnerte uns an diesen Vorfall. Die anderen Narben erinnerten uns daran, dass der Juckreiz manchmal übermächtig wurde und wir uns blutig kratzten. Die Hautärztin verschrieb uns Cortisonsalbe und rückfettende Bäder, unsere Tante kaufte uns homöopathische Kügelchen und Stutenmilch. Wir sollten keine Baumwollkleidung tragen, keine Zitrusfrüchte und keine Weizenprodukte essen, überheizte Räume, Stress und Schweiß vermeiden. Vor allem sollten wir unsere Fingernägel kurz halten. Das taten wir. Wir sollten sie zweimal wöchentlich schneiden. Das taten wir nicht. Wir kauten an ihnen herum, nagten und bissen sie ab. Doch auch der mickrigste Fingernagel durchdrang die Haut, wenn wir genügend Druck aufbrachten.
VATER SCHLUG UNSERER Tante mit der flachen Hand ins Gesicht, dass es knallte.
»Lass meine Familie in Ruhe!«
Unsere Tante wich zurück, mit offenem Mund und zitternden Pupillen, unfähig etwas zu erwidern. Sie hatte Mutter zu einer Wahrsagerin gebracht, die in ihre Kristallkugel geblickt und dunkle Prophezeiungen ausgesprochen hatte. Noch im Laufe des Jahres würde drei nahe Verwandte großes Unglück ereilen. Danach glaubte Mutter, zu Silvester sei ihre Familie ausgerottet.
Ging es Mutter gut, kochte sie Lasagne für uns und wir durften Knight Rider schauen. Unsere Gabel tauchte in die Béchamelsauce ein, während K.I.T.T. über zwei Autos sprang. Unsere Schwester kam früher als gewohnt nach Hause und legte Puzzles mit uns. Wir drehten die Schachtel um, in der Hoffnung, das fehlende Puzzleteil fiele heraus. Vater fuhr mit uns ins Schwimmbad oder zeigte uns die Alpakas, die ein Bauer im Mühlviertel züchtete. Wir rutschten in gelber Badehose durch blaue Röhren. Unsere Hand strich über kastanienrotes Fell.
»DU DARFST SPIELI behalten, aber du musst dich um ihn kümmern!«, sagte Mutter.
»Er heißt Speedy«, erwiderte unsere Schwester.
»Ich kümmere mich nicht um ihn, verstanden?«, sagte Mutter, stemmte ihre Arme in die Hüften und wartete, bis unsere Schwester die weiße Maus zurück in den Käfig gesetzt und den Napf mit Trockenfutter aufgefüllt hatte. Nachdem Mutter aus dem Zimmer gegangen war, zog unsere Schwester die Einweghandschuhe ab, warf einen zwanzigseitigen Würfel gegen die Front ihres leeren Puppenhauses und notierte die Augenzahl auf einem karierten Blockzettel. Speedy scharrte über das Plastik des Käfigbodens. Unsere Schwester würfelte, notierte, würfelte, notierte, würfelte, notierte.
»Würfel haben kein Gedächtnis«, flüsterte sie.
»DEINE MUTTER IST am 12. August 1947 geboren«, sagte Vater. »Aber das müsstest du doch schon wissen.«
»Und wann ist der Klaff-Großvater aus Russland zurückgekommen?«
Für einen kurzen Moment hielt Vater die Augen geschlossen. Dann klappte er sein Rätselheft zu und drückte es uns in die Hand.
»Wirf das bitte ins Altpapier«, sagte er und ging nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
Sein Kugelschreiber klemmte noch zwischen den Seiten des Heftes.
UNSERE SCHWESTER HATTE den Klaff-Großvater nicht mehr kennengelernt, doch an die Klaff-Großmutter konnte sie sich lebhaft erinnern. Mit ihr gemeinsam hatte sie die Fische im Weiher gezählt, jedes Mal aufs Neue, wenn sie in Klaff zu Besuch gewesen war, 17, 16, 16, 12. Während Großmutter das Laub im Hof gekehrt hatte, war unsere Schwester zumeist auf dem Hackstock gesessen und hatte Strickmuster aus einer alten Handarbeitszeitschrift abgepaust. Einmal hatte Großmutter vorgezeigt, wie man eine Kuh melkt. Unsere Schwester hatte die Euter nur mit Handschuhen anfassen wollen, aber Großmutter hatte gesagt, das hätten die Kühe nicht gern. Unsere Schwester hatte geweint und am nächsten Tag hatte sie von Großmutter eine blaue Spielzeugangel geschenkt bekommen.
Wir erinnerten uns bloß daran, dass wir einmal mit der Klaff-Großmutter die Abendnachrichten geschaut hatten. Bilder einer großen Demonstration waren gezeigt worden: Menschen marschierten durch die Innenstadt der Hauptstadt, schwarze Lederjacken, rote Fahnen, wütende Gesichter, Gerangel mit Polizeikräften, ein eingeschlagenes Schaufenster. Die Klaff-Großmutter hatte den Kopf geschüttelt. »Lauter Russen.«
Zum Begräbnis der Klaff-Großmutter mussten wir ein Hemd tragen, das einem Cousin, den wir kaum kannten, zu klein geworden war. Als wir vor dem Schlafzimmerspiegel das T-Shirt auszogen, beäugte uns Mutter. Sie setzte sich aufs Ehebett, presste ihre Handballen gegen unsere Hüften, tastete mit den Daumen das Fleisch rund um den Nabel ab und seufzte: »Dein Vater und du, ihr habt eben eine schlaffe Bauchdecke.«
Wir stellten uns vor, wie unsere Haut verhärtet, zu einem Schuppenpanzer wird, der dem Druck von Mutters Berührungen nicht nachgibt.
»Aber wenn du so groß wie er wirst, fällt das nicht ins Gewicht«, sagte Mutter, knöpfte uns das Hemd zu, krempelte uns die Hosenbeine um und kämmte uns die Haare zu einem Seitenscheitel.
»Ist das ein Enkerl?«, fragten fremde Menschen unsere Eltern am Vorplatz der Kirche, ließen ihre Mundwinkel hängen, tätschelten unsere Wange, sprachen uns ihr Beileid aus. Der Wind drehte und der Wetterhahn auf dem Dach der Sakristei kreischte auf.
Als später ein Trauergast nach dem anderen ein Häufchen Erde auf den Sarg der Klaff-Großmutter warf, machte unsere Schwester einen Schritt nach vorne und hielt die blaue Spielzeugangel über das offene Grab. An einer dünnen Nylonschnur baumelte der Plastikhaken. Mutter zog unsere Schwester zurück.
Auf der Rückfahrt musste Vater tanken und stellte danach das