Triceratops. Stephan Roiss

Triceratops - Stephan Roiss


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spielten, bis es dunkel wurde. Wir hingegen sollten um 16 Uhr zu Hause sein.

      »Weil ich es so will«, sagte Mutter.

      Wir fügten uns. Aber die anderen Kinder gaben nicht auf. Ohne uns waren sie eine ungerade Anzahl.

      »Warum darf er nicht so lange spielen wie –«

      »Weil ich es nicht will!«

      Mutter fasste den Ärmel unseres Maradona-Trikots, zog uns zu sich ins Haus und drückte die Tür ins Schloss. Vater rief aus dem Wohnzimmer: »Lass ihn doch mit den anderen spielen! Wenn der Bub sich nicht bewegt, wird er noch zum Fass.«

      Als Vater uns zum ersten Mal sah, soll er gesagt haben: »Na, den traue ich mich auch anzugreifen.«

      4650 Gramm. Bei unserer Geburt waren wir das schwerste Kind der Station. Unsere Schwester war weniger robust auf die Welt gekommen. Sie hatte ihre ersten Tage in einem Inkubator verbracht. Als Kind hatte sie die Dinge kaum berührt. Über Stunden hinweg war es ihr genug gewesen, in einer Ecke zu sitzen. Manchmal hatte sie mit einem Zirkel gespielt oder Konservendosen gestapelt. In späteren Jahren lernte sie Schacheröffnungen. Auf ihrer Blockflöte trug sie nur widerwillig Lieder vor. Lieber spielte sie Tonleitern auf und ab oder stoppte, wie lange sie eine einzelne Note halten konnte. Oft schaute sie bloß, und niemand konnte sagen, wohin. In die Augen von Menschen blickte sie so gut wie nie.

      »Du spürst sie kaum«, meinte Mutter oft. »Sie geht im Haus herum wie ein Geist.«

      NEBEN DEM WALDWEG glitzerte ein Rinnsal. Wir streckten im Gehen den Arm aus, streiften mit den Fingerkuppen über Farnblätter, Tannenzapfen, rote Beeren.

      »Das sind Vogelbeeren«, sagte Mutter. »Die darf man nicht essen. Die sind giftig.«

      Unsere Schwester eilte voraus.

      »Komm jetzt«, sagte Mutter und nahm unsere Hand. »Großmutter wartet schon mit den Palatschinken auf dich. Und ich muss wieder zurück nach Hause und deine Schwester noch in die Musikschule bringen.«

      Unsere Schwester hielt plötzlich an.

      »Dort oben ist der Aschbach-Großvater verrückt geworden«, sagte sie und deutete den Hang hinauf. Wir konnten dort oben nur Felsen und Brennnesseln erkennen.

      »Halt den Mund!«, rief Mutter. »Du machst deinem Bruder doch Angst!«

      Unsere Schwester ballte ihre Fäuste und stapfte weiter, murmelte aufgeregt vor sich hin, doch wir konnten kein Wort verstehen. Mutter drückte unsere Hand.

      »Großvater war nicht verrückt«, sagte sie.

      »Was ist da oben?«, fragten wir Mutter.

      »Nichts«, sagte sie. »Da ist nur Wald.«

      In Aschbach schliefen wir bei offenem Fenster unter einer dicken Tuchent. Die Matratze war durchgelegen und das Bettgestell quietschte bei der geringsten Bewegung. Der Wind blähte die Vorhänge. Sprühregen. Der Lampenschirm schwankte. Ein Keramikengel ging zu Bruch. Ein Blitz erhellte den Raum, das lange Messer mit dem Hirschhorngriff schien sich von der Wand zu lösen. Wir zogen die Tuchent über den Kopf. Ein anderes Tier stieg aus der Erde herauf. Es hatte zwei Hörner wie ein Lamm, aber es redete wie ein Drache.

      DIE MITSCHÜLER PRUSTETEN los, die Lehrerin ermahnte uns lautstark: »So nicht, mein Lieber! Was glaubst du, wo du hier bist?«

      Wir wussten nicht, was wir falsch gemacht hatten, stammelten, bekamen kaum Luft. In der Pause sperrten wir uns auf der Toilette ein und kratzten uns, bis die Schulglocke zum Beginn der nächsten Stunde läutete.

      Daheim küsste Mutter die wunden Stellen, schmierte unsere Arme mit Pflegecreme ein und bereitete einen Bananensplit für uns zu.

      »Weißt du«, sagte sie, während wir die letzten Reste der Schokoladensauce vom Tellerrand schabten, »man rülpst nicht, wenn andere dabei sind. Das ist unhöflich.«

      Wir durften die Blätter des Philodendrons mit der Sprühflasche befeuchten und danach ins Zimmer unserer Schwester gehen, um dort Speedy mit dem Zeigefinger über den Kopf zu streicheln. Wir nahmen den Stehkalender zur Hand, den Vater uns aus dem Büro mitgebracht hatte, und trugen darin sorgfältig den Stundenplan für den Rest des Semesters ein. Den knallroten Zug auf der ersten Seite des Kalenders übermalten wir mit einem Gorilla, dessen Maul größer als der Rest seines Körpers ist. Krullax treibt sein Unwesen im Wimmermoor.

      DIE ASCHBACH-GROSSMUTTER saß in der Stube vor dem Mostkrug und schnarchte leise. Als wir über den knarzenden Holzboden auf sie zugingen, öffnete sie die Augen. Wir zeigten ihr, was wir unter der Dachbodenstiege gefunden hatten.

      »Das ist ein Bowlingkegel«, sagte sie. »Wo kommt denn der her?«

      Sie ergriff den Kegel und musterte ihn. Wir stopften den Putzfetzen, in den der Kegel eingeschlagen gewesen war, in die Hosentasche.

      »Warst du heimlich im Wald?«, fragte Großmutter.

      Wir verstanden die Frage nicht, schüttelten den Kopf.

      »Unsereins spielt kein Bowling«, sagte Großmutter. »Das spielen nur Amerikaner.«

      Ächzend erhob sie sich und warf den Kegel in die Glut. Funken schwebten durch die Stube. Das Ofentürchen quietschte, als Großmutter es schloss.

      »Was wir machen, das heißt Kegeln«, sagte Großmutter, kämpfte kurz mit ihrem Gleichgewicht, setzte sich wieder auf ihren Stuhl und schenkte sich randvoll Most ein.

      »Neun Kegel sind genug«, sagte sie, kicherte und nahm einen großen Schluck.

      Uns schossen Tränen in die Augen.

      Am Abend durften wir Zweige mit einem Taschenmesser anspitzen. Großmutter schnitt die Knackwürste ein und zeigte uns am Sternenhimmel den Gürtel des Orion und das W der Kassiopeia. Ihr Gesicht flackerte im Schein des Lagerfeuers.

      Zwei Tage später knieten wir vor einer roten Schale voller Playmobil im Hof. Großmutter trat aus dem Haus. »Um sechs holt dich dein Vater ab«, sagte sie. Ihre Holzpantoffeln klapperten bei jedem Schritt. Eine Weile sah sie uns zu, wie wir die Playmobilmännchen auf einem Riss im Beton postierten. Dann bückte sie sich und stellte die Figur, die wir gerade zurück in die Schale gelegt hatten, wieder vor uns hin. Der Figur fehlte ein Arm.

      »Man muss auch mit Behinderten spielen.«

      Eine rostige Eisenstange ragte aus dem Wasser, von Seerosen umringt. Auf einem Stein hockte reglos eine schlammfarbene Kröte. Zwei Steine weiter saß der Kater, mit zuckendem Schwanz und aufgerichteten Ohren. Er beobachtete die Wasserhüpfer, die mit jedem ihrer Sprünge feine Wellenkreise lostraten. Es sah aus, als würde es regnen. Wir ließen uns auf dem Tischtuch nieder, das Großmutter auf dem Steg ausgebreitet hatte.

      »Aber fall mir ja nicht in den Tümpel«, sagte sie, verließ den Garten, zog das Gatter zu und verschwand hinter der Hausecke.

      Eine Weile befühlten wir die Rillen im Stegholz. Wir bemerkten, dass die Kröte ein Bein vor das andere gesetzt hatte. Von fern kam das Plätschern der Bäche und wir hörten darin die Stimmen von Frauen und Kindern, einen Traktor, Blasmusik, das Zischeln einer Schlange.

      Wir erwachten. Immer noch lagen wir auf dem Tischtuch vor dem Tümpel, doch unser Kopf ruhte nun auf einem Polster und ein grober Leinenvorhang bedeckte uns. Wir schlugen den Stoff zur Seite und kratzten uns an den Schienbeinen.

      Wir liefen durch den Garten, kletterten auf den weißen Findling, warfen den Putzfetzen in die Luft und fingen ihn wieder, umrundeten den Tümpel, hüpften von Trittstein zu Trittstein, bis wir das Gatter erreichten. Dort brockten wir ein paar Walderdbeeren und kehrten in den Hof zurück. Der Kater wärmte sich auf dem Misthaufen den Bauch. Wir gingen in die Scheune und stellten uns tot.

      Unsere Schwester zeichnete gerade das Muster des Teppichs ab, als wir ihr Zimmer betraten. Ein schmales Rahmenband, Zackenlinien, Dreiecke, im Zentrum eine flache Raute. Langsam tastete sich ein Weberknecht über das Poster, das die Werte und Zugformen der Schachfiguren erklärte. Speedy lag rücklings im Käfig und rührte sich nicht. Seine Schnauze


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