Triceratops. Stephan Roiss

Triceratops - Stephan Roiss


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setzten uns zu ihr und streichelten ihren Rücken. Unterdessen rammte unsere Schwester die Spielzeugangel in den Abfalleimer neben der Bank, stieg wieder ins Auto und schnallte sich an. Vater rauchte zwei Zigaretten in der Abendsonne.

      »DER KLAFF-GROSSVATER«, sagte Mutter endlich, »hatte eine sehr schwere Lungenentzündung.«

      Sie ergriff die beiden großen Holzgabeln, die in der Schüssel vor ihr steckten.

      »Will noch jemand Salat?«

      Wir klopften mit dem Löffel gegen die Tischkante. Einmal, zweimal, dreimal. Wir trommelten auf dem Gebetswürfel herum, schlugen gegen das Wasserglas, gegen die Salatschüssel, gegen die Schale mit den Heidelbeeren.

      »Hör auf damit!«

      Mutter riss uns den Löffel aus der Hand.

      »Willst du nicht irgendwas spielen?«

      Wir ahnten die Lüge.

      Zu Kriegsbeginn hatte der Klaff-Großvater als uk gegolten, als unabkömmlich für den elterlichen Hof. Er wurde erst im Frühling 1941 eingezogen und diente danach in verschiedenen Einheiten an der deutsch-sowjetischen Front, geriet in Gefangenschaft, floh nach Kriegsende aus dem Lager und marschierte zu Fuß von Russland nach Hause. Als er ankam, war er abgemagert und einsilbig. Er entzog sich der Umarmung seiner Frau, trat in die Stube und leerte seine Manteltaschen aus: ein vereister Schneeball, zwanzig Schilling Handgeld, zehn Zigaretten und die Bescheinigung der Heimkehrerstelle: entlaust und seuchenfrei. Die Granatsplitter in der Schulter und seine Erinnerungen behielt er für sich. In den Jahren der Besatzung zerstachen Engelmacherinnen mit Stricknadeln die Fruchtblasen vergewaltigter Mädchen. Ein dürrer Ochse brach auf dem Feld zusammen und verreckte unter Großvaters Stockschlägen. Die abgetragenen Kleider der Erwachsenen wurden umgenäht für die Kleinen, einmal pro Woche Baden in der Scheune – erst die Eltern, danach die Kinder im selben Wasser. Der erste Traktor, die erste Melkmaschine, Stallbau, Erziehung durch Gürtel und Teppichklopfer, Mitte der Sechziger ein Badezimmer, Mitte der Siebziger ein hauseigener Fernseher. Am 27. Oktober 1976 erhängte sich der Klaff-Großvater im Stall. Gefunden wurde er von seiner ältesten Tochter, unserer Mutter. Sie stand im Mittelgang, zwischen brüllenden Kühen und rasselnden Ketten, und legte den Kopf in den Nacken.

      DIE ORDENSFRAU BEUGTE sich zu uns herab.

      »Ich bin Schwester Aloisia.«

      Ihr Atem roch nach Knoblauch.

      »Deine Mutter ist nur schnell beim Doktor. Du wirst sehen, sie ist im Nu zurück!«

      Schwester Aloisia führte uns ins Spielzimmer des Kinderhorts. Neben einem Regal, in dem Bilderbücher mit dicken Kartonseiten standen, lehnte einsam ein Steckenpferd an der Wand. Zwei Buben saßen auf einem Kuhfell und stießen Dinosaurierfiguren gegeneinander. Ein Mädchen machte Brummgeräusche, während es mit einer Hand ein Spielzeugauto über den Vorhang gleiten ließ. Auf dem Türstock klebten Sticker mit den Zeichentrickhelden aus dem Dschungelbuch. Wir kratzten eine Weile an Baghira herum. Eine Dinosaurierfigur traf uns zwischen den Schulterblättern. Die Buben auf dem Kuhfell lachten. Schwester Aloisia drehte sich um und schmunzelte.

      »Na, habt ihr es lustig miteinander?«

      Wir gingen auf die andere Seite des Raumes und drückten die Stirn gegen einen Fensterrahmen. Farbe blätterte ab. Das Mädchen setzte das Spielzeugauto auf dem Fensterbrett ab, steckte sich einen Lacksplitter in den Mund und suchte mit herausgestreckter Zunge sein Spiegelbild im Glas. Schwester Aloisia stellte sich in die Mitte des Spielzimmers und verschränkte die Finger vor ihrem Bauch.

      »Muss jemand aufs Klo?«

      MUTTER HATTE EINE dünne, biegsame Metallplatte zwischen das Leintuch und die Matratze unseres Bettes geschoben. Aus der Platte führte ein Kabel zu einem Apparat auf dem Boden. Wurde die Platte nass, schlug der Apparat Alarm. Hielt die Blase in der Nacht den Harn nicht, wurden wir von einem Piepsen geweckt, das so schrill war, dass jedes Mal auch die Eltern und unsere Schwester davon erwachten. Der Apparat verhinderte nichts. Er brachte bloß vier Menschen um den Schlaf. Wir machten ins Bett, bis wir dreizehn waren. Niemals, wenn wir auswärts übernachteten.

      »Am Muskel liegt es jedenfalls nicht«, sagte der Urologe.

      Das Ultraschallbild zeigte eine Blasenwand, die stellenweise einen Zentimeter dick war.

      »Hältst du untertags oft den Harn zurück?«

      Wir zuckten mit den Achseln.

      »Nein, das tut er nicht«, sagte Mutter.

      Der Urologe gab uns einen Kalender mit. Darin sollten wir notieren, an welchen Tagen wir ins Bett machten und an welchen nicht, Stern, Minus, Minus, Stern, Minus, wie oft am Tag wir aufs Klo gingen und wie viel Harn wir dabei ließen. Er überreichte uns einen Messbecher, 150 ml, 400 ml, 250 ml. Von der Psychologin bekamen wir die Aufgabe, ein Bild anzufertigen, von uns und allem, womit wir Zeit verbrachten.

      Daheim zeichneten wir mit Bleistift unseren Kopf in die Mitte eines weißen Blattes. Rundliches Gesicht, Seitenscheitel, schmaler Mund. Um den Kopf ordneten wir kleine Gedankenblasen an. In jede Gedankenblase zeichneten wir uns selbst in einem anderen Zusammenhang. Wir im Klassenzimmer. Wir mit Speedy vor dem offenen Käfig. Wir über ein dickes Buch gebeugt. Wir im Hort neben vier Dinosaurierfiguren. Wir in Großmutters Stube, ein Monster malend. Wir auf einem Bett, an dessen Unterseite große Tropfen austreten. Zuletzt zeichneten wir ein großes Pflaster auf die linke Wange unseres Selbstporträts. Mutter wurde gefragt, ob wir geschlagen würden.

      Wir konnten uns lediglich an einen etwas festeren Klaps auf den Hintern erinnern. Wir spielten in der Sandkiste neben der Auffahrt. Irgendwann langweilte uns das Lego-Raumschiff und wir begannen Sand auf die Windschutzscheibe von Vaters Auto zu schaufeln. Mutter kam aus dem Haus und riss die Augen auf.

      »Du bist wohl wahnsinnig geworden!«, rief sie und rannte mit erhobener Hand auf uns zu. Wir erschraken, drehten uns um und liefen los. Nach wenigen Schritten allerdings blieben wir stehen, verharrten mit hochgezogenen Schultern.

      Der Schlag tat nicht weh und Mutter bereute ihn sofort. Wir trösteten sie. Vater sah fern.

      »AIDS! AIDS!«, KREISCHTE ein Bub und pikste einem Mädchen mit einem Tintenkiller in den Rücken. Kurz darauf knallte ein Federpennal gegen die dunkelgrüne Tafel. Die Klasse war in hellem Aufruhr. Wir stützten die Arme auf dem Tisch ab, hielten uns die Ohren zu und schauten nach vorne zur Lehrerin. Die saß noch immer mit versteinerter Miene und verschränkten Armen hinter dem Pult und wartete darauf, dass die Klasse sich beruhigte. Als ihr Blick auf uns fiel, lächelte sie kurz.

      »Aids!«, rief der Bub wieder und stach seinem Sitznachbarn mit einem Geodreieck in den Ellenbogen. Schallendes Gelächter.

      Die Lehrerin stand endlich auf und schrie: »Haltet den Mund!«

      Die Lehrerin, die Nachbarin, der Pfarrer, Mutter und Vater. Man lobte uns. Weil wir so folgsam und tüchtig und hilfsbereit waren. Weil wir schon so gut lesen und schreiben konnten. Weil wir so tolle bunte Bilder malten und uns Bibelverse merkten. Wir hätten uns nicht gewundert, wäre eines Abends ein Engel durchs Fenster in unser Zimmer geschwebt, um uns zu eröffnen, dass wir Gottes Sohn sind. Wir hätten ihn bloß gefragt, was genau unsere Aufgabe ist.

      »ICH BIN EIN Haifisch«, sagte unsere Schwester, rückte dicht an uns heran und machte ihren Mund weit auf. Sie hatte einen Zahn zu viel. Einer ihrer Eckzähne hatte sich in zweiter Reihe eingeordnet, anstatt den Milchzahn zu verdrängen.

      »Und du bist ein Delfin«, sagte sie, bevor sie sich wieder ihren Stofftieren zuwandte.

      Hinter uns raschelte es im Stroh. Speedy nuckelte an der Wasserflasche.

      »Warum?«, fragten wir.

      Unsere Schwester stellte ihre Stofftiere in Stirnreihe auf und ließ den Haken ihrer blauen Spielzeugangel vor den Knopfaugen eines Teddybären baumeln.

      »Weil ich es sage.«

      Wir malten uns aus, wir wären ein Delfin. Einer, der so tut, als wäre er ein Schwarm von kleinen Delfinen.

      DIE


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