Ich, eine schlechte Mutter. Marguerite Andersen

Ich, eine schlechte Mutter - Marguerite Andersen


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Nadelöhr muss ich durch, danach reden wir nie wieder darüber, versprochen. Ich weiß, ihr würdet gern glauben, dass das Leben immer heiter ist, die Kernfamilie, wie es so schön heißt, immer glücklich, die Kinder intelligent und gesund, die Welt beinahe vollkommen … und dass alle Mütter gute Mütter sind …

      – Mach mal bitte halblang!

      – Wie könnt ihr so was glauben, wenn ihr doch genau wisst, dass dem nicht immer so ist?

      – Was willst du denn hören? Martin hat es unbeschadet überstanden, er macht keinen leidenden Eindruck, die Kleine auch nicht, und für mich gilt das Gleiche. Wir werfen dir nichts vor.

      – Da habe ich ja Glück …

      – Wir respektieren dich.

      – Das weiß ich. Aber ich werfe mir meine Fehler vor.

      – Jeder macht Fehler.

      – Sicher. Aber die Fehler einer Mutter … Ab einem bestimmten Zeitpunkt habe ich euch allein gelassen.

      – Hör mal, Mama … In deinem Alter …

      – Eben. Bevor ich für immer die Augen schließe, wie es so schön heißt, muss ich …

      – Was? Musst du dich quälen?

      – Muss ich Bilanz ziehen, ehrlich, ganz ungeschönt.

      – Wozu?

      – Damit alles etwas klarer wird.

      – Aber du hast uns doch nicht misshandelt!

      – Bloß vernachlässigt, schikaniert, manchmal sogar ignoriert … Vor allem Martin …

      – Warum?

      – Er war schwieriger …

      – Als ich? Wirklich?

      – Ja. Aber das ist nicht weiter wichtig.

      – Worum geht es eigentlich?

      – Es beginnt mit Martin, 1945 gezeugt, ein Prachtfrühling in diesem Jahr, Hitler ist tot, der Krieg vorbei, die Welt jubelt, die Freiheit ist zum Greifen nah.

      – Du immer mit deinen alten Geschichten …

      – Diesmal halte ich mich nicht mit historischen Details auf. Es geht um mehr oder weniger klare Gefühle, um simpelste Fakten. Ausgewählt wird immer das Eindrücklichste. Als würde ich mir Notizen machen. Poesie und Prosa … Mit oder ohne Zeichensetzung …

      – … eine Stilübung?

      – Auf keinen Fall!

      – Eine neue Methode der Selbstfolter?

      – Auch nicht.

      – Was dann?

      – Eher eine Art von Suche … Wie all meine Bücher. Wie viele Bücher.

      – Ein Tasten … Worte, die fehlen … Worte, die ungesagt blieben …

      – Zögerst du noch?

      – Hör zu, mein Sohn: Danke, aber jetzt geh nach Hause! Ich muss mich ransetzen. Allein!

      1So, wie Jean Starobinski den Begriff geprägt hat, der in Rousseau: eine Welt von Widerständen (OA 1957) Rousseaus Suche nach Transparenz Etappe für Etappe nachverfolgt.

      2Geschichte meines Lebens, übersetzt von Claire Glümer. [A. d. Ü.]

       BESCHLOSSENE SACHE

      Herbst 1943. Berlin.

      Ich bin acht, als Hitler die Macht ergreift, mein Vater seiner Ämter enthoben, fünfzehn, als der Zweite Weltkrieg erklärt wird. Ich schließe gerade die Oberstufe ab, habe vor, französische Sprache und Literatur zu studieren, als sich die Tore der Philologischen Fakultät schließen. Zum Kriegsdienst verdonnert, katalogisiere ich den lieben langen Tag unzählige Röntgenaufnahmen von Studentenlungen in einem Büro der Berliner Universität.

      Das war nicht lustig.

      Die Hauptstadt unterm Bombenhagel

      Dreitausend Tote in zwei Nächten

      vom 18. zum 19. und vom 22. zum 23. November 1943

      Brände

      Ruinen

      Asche überall

      am Boden

      in der Lunge

      Zerfetzte Körper, die man wegbringt

      verscharrt

      vergisst

      schnell

      ergreife ich die Flucht

      setze den unvermeidlichen Kriegsdienst

      im Kinderhort eines österreichischen Dorfes fort.

      Frühling 1945. Schwarzenberg, Österreich.

      Vorbei, der Krieg. Im Radio wird verkündet, der Führer sei tot. Gut so.

      Heimkehren. Heimkehren nach Berlin.

      Zu uns.

      Drei Frauen, zwei Kinder: meine Mutter, meine Schwester Christa mit ihren beiden Kleinen, ich. Es soll Züge geben.

      Vollgestopft mit heimkehrenden Frauen. Frauen, die von ihrem Unglück erzählen werden, ohne damit aufhören zu können, müde Kinder, ungeduldig, mangelernährt, lauthals brüllend.

      WCs, deren Türen kaum schließen oder sogar weit offenstehen, stinkend nach abgestandenem Urin, Erbrochenem, billigem Desinfektionsmittel.

      Sich durch Schweigen wappnen.

      Nichts eindringen lassen.

      Sich mit einem Platz im Gang begnügen, auf seinen Koffer setzen.

      Mein Koffer, meine Mutter, meine Schwester, mein Neffe, meine Nichte.

      Der Vater in Berlin.

      Das Haus – steht noch.

      Die Familie. Ein Leben, wie es sich gehört.

      Wie es sich gehört?

      Stehende Wendung, die neu bestimmt werden muss.

      Denn nichts gehört sich mehr

      nichts ist mehr wie früher.

      Da gab es die Vernichtung von sechs Millionen Menschen, verdinglicht, ermordet, stets gegenwärtig, vor unseren grauen Gesichtern, unseren gesenkten Augen.

      Die Scham.

      Angst, deutsches Wort, denkt man dran, beißt man die Zähne zusammen.

      Ich selbst bin feige. Ich bin zwanzig und will leben.

      Ohne Angst, ohne Scham, ohne Hunger oder Durst.

      Dem Elend den Rücken zukehren.

      Warten.

      Beim Warten

      eine andere Sprache sprechen

      lachen

      mich lösen.

      Mit dem französischen Geliebten in der schönen Wohnung leben, die von der Armee beschlagnahmt wurde.

      Es


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