Ich, eine schlechte Mutter. Marguerite Andersen
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Der französische Geliebte erzählt von Tunis, wo er geboren wurde. Wohin er heimkehren wird.
Ob das eine Einladung ist? Nordafrika, die Ehe, ein Tor zur Freiheit?
Ich spüre, wie mir Flügel wachsen.
EIN NATÜRLICHES HINDERNIS
Oktober. Keine Regel. Kein einziger Tropfen Blut.
Übelkeit. Abends gehe ich auf einmal früh ins Bett.
Die Brüste schmerzen. Ich bin wohl schwanger.
Schwanger? Bin ich schwanger? Einfach so, aus heiterem Himmel?
Nackt vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer, nehme ich mich in Augenschein. Von vorne, von der Seite. Der Bauch ist etwas schlaff. Immer noch derselbe? Ja? Nein! Mein Leben ist anders. Ich bin anders. Mit einem Bauch befrachtet, der sich schwer anfühlt.
Wo ist der geflügelte Traum von gestern hin?
Ich bin nicht mehr diejenige, die aufbricht. Ich bin Teil eines Wirs, die wir zusammen aufbrechen … wohin, wozu?
Ein Kind … Will ich es? Will es der Mann, der Geliebte?
Haben wir, und sei’s nur flüchtig, daran gedacht, bei der Liebe?
Haben wir auch nur darüber geredet?
Ist mir das wirklich passiert?
Ein Kind. Sollte ich mich nicht freuen?
Es gar nicht erwarten können? Es zu bekommen? Es zu sehen? Zu berühren? Ein Name … Ein Bild … Erika …
Entfernte Kusine. Familiengeheimnis. Sie soll sich eines Kindes entledigt haben. Mit Hilfe eines Arztes. Danach soll sie geweint haben, am Ostseestrand. Das Kind begraben …
Die Tränen im Sand …
Das Kind des Zufalls, ein Unfall, Schicksal.
Unerwartet.
Ein Arzt, ich brauche einen Arzt, brauche Gewissheit.
Er soll mir sagen, ob ich wirklich schwanger bin.
– Eindeutig, meine Dame.
Bin ich nicht zu jung für diese Bezeichnung? Ich erwarte, dass er mich berät, dieser Mann in Weiß. Dass er mir die Frage an den Augen abliest.
Schließlich sagt er zu mir, ja, in diesen schwierigen Zeiten könnte man vielleicht eine Abtreibung vornehmen …
Weil das aber gesetzeswidrig sei, müsste die Ausschabung ohne Narkose erfolgen …
– Und falls es dann zu Komplikationen kommt … Wären die Schmerzen unerträglich, verstehen Sie?
Sag mir, Arzt, würdest du das deiner Frau antun?
Meine Frage bringt ihn in Bedrängnis.
– Nein, auf keinen Fall, niemals!
Ich habe Angst vor dem Messer im Leib. In meinem, nicht dem des Kindes.
Ich stehe wieder auf. Ziehe den Schlüpfer wieder an. Meine Schuhe.
Was soll’s. Das Kind des Zufalls wird mein Kind werden.
Ich werde uns schon zu helfen wissen.
HOCHZEIT
Es ist Januar, das Meer aufgewühlt.
Das Schiff schaukelt, alles schwankt um mich herum, ich erbreche, links, rechts, in meiner Koje, auf meine Kleider, im Klo, über Bord, ich übergebe meinen Mageninhalt, alles, bis auf den letzten Tropfen, und dann fängt alles wieder von vorn an. Liegt es daran, dass ich schwanger oder dass ich seekrank bin, ist es Angst vor dem, was ich in Angriff nehme? So oder so werde ich niemals diese jämmerliche Überquerung eines grauen, wintrigen Mittelmeers vergessen.
Hätte es nicht blau sein müssen, dieses Meer? Glücklich, ich? Die Stadt.
Tunis.
Warum ist die Luft so unbewegt, so grau?
Wo ist denn die Sonne?
Der Geliebte hat beim Rathaus das standesamtliche Aufgebot bestellt. Auf dass es alle zur Kenntnis nehmen.
So will es der Brauch. Das Gesetz. Die Welt hat zehn Tage Zeit, um Widerspruch einzulegen. Die Welt? Wer hätte einen Grund, wer ein Wörtchen mitzureden, wer einen Rat zu erteilen? Niemand.
Ich bin die Fremde in der Fremde, ich werde Ja sagen, eine Urkunde unterschreiben, einen anderen Namen tragen.
Der Geliebte hat sich auch verändert. Er ist nicht mehr der stolze Eroberer, der fröhliche Befreier meines Landes, er ist wieder der gleiche Beamte wie in seinem Leben vor dem Krieg.
Muss ich ihn heiraten?
Just, als ich die paar Stufen zur Tür des Rathauses hinaufgehe, wird mir mein Irrtum bewusst.
Heiraten, ich?
Mein Leben Tag und Nacht mit einem anderen teilen?
Wegen eines Kindes?
Wehr dich, Marguerite, ruf Halt, erkläre, dass du nicht heiraten wirst! Nicht heute, nicht ihn, und wenn du noch so schwanger bist, nein, du willst nicht heiraten … Du bist stark, du wirst allein zurechtkommen … Sag dem Mann und seinen beiden Trauzeugen, wir müssen umkehren, irgendwo ein Gläschen trinken, hier, in dieser Bar an der Ecke, und in Ruhe über alles reden. Sonnenkerne knabbern …
Ich gehe durch die Tür.
Habe ich das Recht, dem Kind seinen Vater vorzuenthalten?
Ob diese Frage sentimental ist?
Wer wird mir Antwort geben?
Das Kind kann sich nicht äußern.
Wer versteht die Sprache von Faustschlägen oder Fußtritten gegen die Gebärmutterwand?
Ein paar Sekunden lang
fern von meiner Familie
von allen, die ich wirklich kenne
allein
schwanger
durch meine Natur und meine Taten gezwungen, ein Kind im Werden zu bergen
bin ich verwirrt.
Was würde der Standesbeamte mit seiner unverhofften Freistunde anfangen, in seinem trostlosen Büro, in das die Sekretärin vielleicht noch einen Strauß aus blauen, weißen und roten Anemonen stellen wird, um die Zeremonie aufzuheitern?
Und ich? Was würde ich tun?
Das Meer, Europa, Berlin …
Da wird mir schwindlig
ich weiß nicht wohin.
Ich würde gern laut verkünden, das Aufgebot gehöre annulliert, getilgt, vergessen
ich sei keine glückliche Verlobte, keine Frau, die man heiratet, keine Mutter, die bereit ist, ein Kind aufzuziehen.
Ich würde mich gern setzen, hier,
auf dieser grauen Bank
in diesem Flur
mich ganz und gar ausweinen.
Liege ich falsch, liege ich richtig?
Wer wird es mir sagen?
Die Wörter wirbeln in meinem Kopf:
Affentheater, Farce, Unsinn …
Ich betrete das Büro, in dem die Ehe geschlossen werden wird.
Der vermeintliche Ausgang führt in ein schwieriges Leben.