Ich, eine schlechte Mutter. Marguerite Andersen
Familie, von den gesellschaftlichen Gepflogenheiten.
An einem Vormittag von fünf Stunden macht sie den Kindern Frühstück, sie wäscht sie, sie kleidet sie an, putzt das Haus, macht die Betten, wäscht sich selbst, kleidet sich an, geht einkaufen, kocht, deckt den Tisch, verpflegt die Kinder in zwanzig Minuten, schreit sie an, bringt sie in die Schule zurück, spült das Geschirr, macht Wäsche und den Rest, den Rest. Gegen halb vier vielleicht kommt sie für eine halbe Stunde dazu, Zeitung zu lesen. Marguerite Duras3
3Das tägliche Leben, übersetzt von Ilma Rakusa. Frankfurt am Main, 1988. [A. d. Ü.]
ZWISCHENSPIEL
Nach der Geburt bieten uns korsische Cousins im Aufbruch für einen Sommer auf der Heimatinsel ihre Wohnung an.
Eine dunkle Rumpelkammer, ohne jede Farbe, mit Möbeln überladen, Spiegelschränken, Geschirrschränken, breiten Polstersesseln, Teppichen, Doppelgardinen, Nippes ohne Ende.
Ich kann kaum atmen.
Sobald das Licht aus ist, macht Martin sich bemerkbar. Schreit, brüllt, wie nur Babys es können. Summen, Streicheln, Fläschchen mit leicht gezuckertem Wasser … nichts hilft.
Er hat Angst, denke ich, es ist seine erste Nacht in der richtigen Welt.
Der Vater schlägt vor, ihn aus dem Fenster zu werfen.
Ernste Drohung oder plumper Scherz?
Instinktiv richten sich die dreiunddreißig Wirbel meines Rückgrats auf, ein Strom von Energie strafft mir die Schultern.
Ich bin die Mutter, die ihr Kind beschützt.
Ich schiebe das Weidenbettchen in ein anderes Zimmer, setze mich daneben, lasse ein Licht brennen, wiege meinen Sohn in der Hoffnung, ihn alle Feindseligkeit vergessen zu machen.
Und dann sehe ich sie: eine ganze Armee von winzigen Tierchen, die an den Laken entlang auf seine rosige Haut zukriechen …
Ich fange sie ein, zerquetsche sie.
Am Morgen lacht der Vater.
– Wanzen, sagt er.
Ich gerate in Panik, verlange eine Erklärung, sofortige Abhilfe. Er soll gefälligst etwas unternehmen, verdammt.
Er zuckt mit den Schultern, geht zur Arbeit.
Wie wird man Wanzen los, die das Blut eines Neugeborenen saugen?
Ob es am Stress liegt? Nach ein paar Tagen werde ich krank.
Wir rufen den Arzt, dem eine praktische Lösung einfällt:
– Fünfzehn Tage Erholung in einer Klinik, für Mutter und Sohn! In der Zwischenzeit sollten Sie sich um eine Wohnung ohne Ungeziefer bemühen, Monsieur!
Rückkehr zu den lächelnden Schwestern, den wanzenfreien Betten, zur Ruhe, in ein lichtes Zimmer ohne überflüssige Ausstattung und anderen Firlefanz.
EINSIEDLERIN
Eine Sozialwohnung am Ende der Avenue Jules-Ferry.
Von meinem Küchenfenster aus erhasche ich, wenn ich mir den Hals verrenke, einen Zipfel des Mittelmeers.
Ich wende mich dem Innenraum zu. Ich beobachte meinen Sohn. Ich gehe sanft mit ihm um. Das ist nur natürlich, ganz natürlich, das versteht sich von selbst, das ist selbstverständlich.
Es heißt, die Mutterliebe setze ein, wenn die Milch einschießt. Dabei füttere ich Martin mit dem Fläschchen …
Buttermilchpulver von Nestlé, mit abgekochtem Wasser angerührt, wie vom Kinderarzt vorgeschrieben. Wie von der Gebrauchsanweisung angeregt, die an der gelben Dose klebt.
Meine Milch schießt nicht ein.
Ich gebe meinem Kind nicht die Brust.
Hat man mir dazu geraten? Hat man mir davon abgeraten?
Habe ich Angst vor einer solchen Nähe?
Stillen war damals nicht in Mode.
Man hat es mir gegenüber nicht einmal erwähnt.
Ob meine Brust ihm fehlt?
Ist er nicht zufrieden?
Praktisch jeden Tag stelle ich seine Fortschritte fest: Ach, jetzt lächelt er, hör doch, wie er brabbelt; sieh an, er lutscht am Daumen; man könnte meinen, er folgt mir mit seinem Blick, ich gebe ihm die Rassel, er nimmt und schüttelt sie, er ist von seinen Händen fasziniert, er ahmt meine Laute nach, dreht sich um; ah, er möchte sich setzen; und hier ist schon sein erster Zahn, darum hat er gestern so viel geweint.
Es gibt keine zartere Haut als seine.
Ich singe ihm das Lied von den Händen vor, die so und so machen, ainsi font, font, font …
Und da lacht er, da krabbelt er, sieh doch, er versucht auf zustehen, hält sich beim Gehen fest …
In meinen Augen ist er vollkommen.
Tag und Nacht
sind wir zusammen
der Innenraum ist unsere Welt
wir gehören einander.
Für mich zählt allein das Kind.
Ob das Mutterliebe ist?
DIE LIEBE
Und die andere Liebe? Die große Liebe, von der die Dichter sprechen? Die ich für meinen Ehemann empfinden sollte, den Mann meines Lebens?
Nichts dergleichen hege ich heute. Auch nicht gestern.
Dabei hatte es früher doch Lust gegeben, zwischen uns?
Die Liebe ist zu einem Akt geworden, der am späten Abend vollzogen werden muss, um den Tag zu beschließen, die Nacht zu eröffnen.
Ein vorausgeplantes Dessert, schreibt Flaubert, nach der Eintönigkeit des Abendessens.
Lähmende Routine.
Allgegenwärtiger Dauerfrost.
Ob mein Sohn wohl auch friert?
In dieser Wohnung am Hafen beugt sich der Mann zu mir, küsst mich. Spürt er denn nicht, dass ich mich kaum rege? Nein, er setzt seine Annäherungen fort, und ich will ihm nicht sagen, dass es mich leider kalt lässt. Ich will ihn nicht kränken, seine Verachtung auf mich ziehen, seinen Ekel, seine Übellaunigkeit.
Der Mann dringt schließlich in mich ein, und ich reagiere so gut wie gar nicht.
Langeweile befällt mich.
Jeden Abend sehe ich der Nacht bang entgegen, dem Mann, der glaubt, er dürfe mich einfach nehmen, wenn ihm danach ist. Ich will nur schlafen. Nicht gestört werden. Mich in den Schlaf fallen lassen, den bewegungslosen, und, wenn es sein muss, sogar traumlosen Schlaf.
An einem noch grauen Morgen verirrt sich eine Ratte durch die weit geöffnete Fenstertür, springt aufs Bett, durchquert es. Offenbar hat sie ihren Irrtum bemerkt, ist gleich wieder zur Tür hinaus.
Der Hafen ist nah.
Der Hafen. Boote. Dampfer.
Zwei blinde Passagiere im Frachtraum eines Schiffs?
Eine Mutter und ihr Kind?
Verrückter Einfall.
Ich hätte es gern
Ich konnte uns nicht retten.