Clausnitz. Sebastian Caspar
erneut klauen, um wenigstens etwas essen zu können.
Und auch wenn es mir schwerfällt, in eben diesen Momenten verstehe ich Christian. Seit einem Monat weigert er sich konsequent, derartige Forderungen zu bearbeiten. Nein, er werde sich nicht aktiv an der Zerschlagung des Systems beteiligen, so seine Worte. Oft frage ich mich, warum Christian diesen Job überhaupt macht, denn er tut ihm einfach nicht gut. Ständig ist er unter einer immensen Anspannung, stets auf dem Sprung, kurz davor, zu explodieren. Aber Christian ist ebenso ein trotziger Typ. Ich glaube, ich kenne ihn mittlerweile so gut, um behaupten zu können, dass er ein Mensch ist, der selten aufgibt. Wenn er etwas angefangen hat, so muss er es durchziehen. Fragt sich nur wie lange. Nach meiner Einschätzung steht Christian kurz vor der totalen Erschöpfung. Trotzdem wende ich mich jetzt zu ihm und frage über den Monitor meines Laptops: „Kannst du vielleicht die eine Zahlungsaufforderung von Najeh bearbeiten? Würde mir echt helfen.“ Eigentlich mache ich mir nur einen Spaß daraus, denn die von mir erwartete Antwort von Christian kommt prompt. „Vergiss es, Svea! Ich bin doch nicht bescheuert.“
„Aber auch das ist Teil unserer Arbeit“, belehre ich ihn.
„Sicher nicht! Ich bin doch kein Bewährungshelfer. Merkst du nicht, dass die über dich lachen und als ihre Erfüllungsgehilfin betrachten?“
„Es gibt nicht die, Christian. Eine ganze Gruppe von Menschen so zu beschuldigen, grenzt an Rassismus, mein Lieber!“
Mir macht es Spaß, Christian mit diesen Floskeln aufzuziehen, auch ist auf ihn stets Verlass, denn er schnellt aus seinem Stuhl hoch.
„Rassismus? Willst du mich verarschen? Du unterstützt Intensivtäter! Sie werden es nie lernen. Wollen sie auch gar nicht.“ Er kommt hinter seinem Schreibtisch hervor. „Unfassbar, dass du mir wieder Rassismus vorwirfst. Ich nenne das gesunden Menschenverstand, verdammt noch mal.“
Jetzt ist Christian bockig, das kenne ich aber schon. Er läuft in sich gekehrt und murmelnd durch das Büro, den Blick starr auf den Boden geheftet. Vor und zurück, hin und her. Ich versuche, ihn zu beruhigen: „Deponiere doch deine Sorge heute Nachmittag beim Migrationstisch. Mal sehen, was die dazu meinen.“ Ich lehne mich in meinem Sessel zurück, spiele mit den Fingern an einer Büroklammer, biege solange an ihr herum, bis sie zerbricht und ich die beiden Teile neben die Tastatur meines Computers auf den Schreibtisch zurücklege.
Christian sagt jetzt leiser: „Sicher nicht. Du weißt ganz genau, dass das keinen Sinn macht.“
„Sinn ergibt.“
„Was?“ Christian ist abrupt stehen geblieben und glotzt mich wie ein Schaf an.
„Es heißt: Sinn ergibt. Sinn machen ist falsch. Diese, soviel Zeit muss sein, falsche Redewendung ist direkt vom Englischen This makes sense abgeleitet.“
„Sag mal, machst du dich über mich lustig?“, Christian ist völlig perplex.
„Im Deutschen kann Sinn nichts machen, höchstens nur haben oder ergeben“, schiebe ich hinterher.
„Ach, vergiss es. Unfassbar.“
Christian dreht wieder seine Runden.
„Es war nur Spaß“, sage ich, wohl wissend, dass er auf mein lächerliches Angebot der Versöhnung anspringen wird. „War nicht so gemeint.“
„Lass mich in Ruhe“, sagt Christian und winkt ab, klingt aber schon sanfter, beendet sein Rundendrehen und setzt sich wieder an seinen Schreibtisch.
„Gott, wie ich diese Aktivisten hasse. Entschuldigung, AktivistInnen – Sternchen, Unterstrich, und was weiß ich noch alles. Ich will mir ja wieder nicht vorwerfen lassen, die LGBT Community auszuschließen.“
„Du nimmst das alles viel zu ernst“, seufze ich.
„Das solltest du auch“, entgegnet Christian. „Es ist schließlich auch dein Land. Na, du hast keine Kinder. Vielleicht ist dir deshalb alles scheißegal.“
„Asyl ist ein Menschenrecht!“, posaune ich heraus. „Außerdem empfinde ich es als diskriminierend, mir in diesem Kontext Kinderlosigkeit vorzuwerfen.“
„Okay, du hast Recht, sorry“, wendet er ein. „Aber komm, sag doch mal, was wir tun müssten. Was muss getan werden?“
Ich denke kurz nach, dann hole ich genüsslich aus: „Zuallererst müssen wir die Menschen, die zu uns kommen, integrieren. Dort gibt es sicherlich Versäumnisse, die aber behoben werden können.“
„Du verwechselst Asyl und Migration“, mischt sich Christian sofort ein, doch ich ignoriere ihn und fahre fort.
„Des Weiteren dürfen wir nicht, das gebe ich zu, den Blick für die innere Sicherheit und die dazugehörigen Sorgen der Bevölkerung verlieren. Es muss entschieden gegen radikale Strömungen jeglicher Couleur vorgegangen werden. Seien sie religiöser, politischer, oder ganz einfach ideologischer Natur. Die Anstrengung muss darin bestehen, ein Maß zu finden, welches, trotz möglicher Repressalien und institutioneller Durchgriffe, die Wahrung der Menschenrechte einhält. Dies benötigt die transparente und effiziente Arbeit eines gut funktionierenden Rechtssystems. Hier fehlt es an Personal. Es sollten dringend mehr Polizisten, Staatsanwälte und Richter eingestellt werden.“
Hier verweile ich, warte auf Christians Reaktion, doch der starrt mich bloß mit aufgerissenen Augen an. Ich fahre fort.
„Mindestens genauso wichtig sind der Ausbau und die Weiterentwicklung unseres Bildungssektors, das heißt, dringende Sanierungsmaßnahmen an unseren Schulen und den Ausbau und die Angleichung der Digitalisierung an globale Standards. Auch muss sich Arbeit wieder lohnen. Der Lebensabend darf nicht in Armut enden. Soll heißen, wir müssen die Ausbreitung des Niedriglohnsektors verhindern und die Lebensleistung jedes Einzelnen fair und gerecht honorieren. Bei all dem darf es aber keine nationale Abschottung geben. Die Welt ist im Wandel, die Welt ist globalisiert. Auch wir tragen unseren Teil dazu bei, dass das Klima sich ändert und sich aus diesem Grund Hunderttausende auf den Weg nach Europa machen – einfach, weil sie sonst ersaufen oder verhungern. Schlussendlich muss es ein Rückbesinnen auf die europäischen Werte ganz im Sinne der französischen Revolution geben – Liberté, Égalité, Fraternité! Wir dürfen uns nicht von Neiddebatten und Populisten spalten lassen, sondern sollten die Hand dem Gegenüber entgegenstrecken. Sei er weißer, brauner, gelber oder schwarzer Hautfarbe. Vive la révolution!“
Ich habe mich richtig heiß geredet, stehe jetzt mit ausgestreckten Armen im Büro und blicke triumphierend zu Christian hinüber. Doch der hört mir gar nicht mehr zu, sondern ist wieder in Facebook vertieft. Sein Gesicht ist erneut zu einer angewiderten Fratze verzerrt. Aber ich frage nicht, was er dort sieht oder was ihn wieder aufregt, sondern setze mich wieder an den Schreibtisch und arbeite die beiden Zahlungsaufforderungen von Najeh ab.
27
Am Nachmittag gehen wir beide zum monatlichen Treffen des Migrationstisches. Dieser ist ein unabhängiges Gremium und Zusammenschluss verschiedener Initiativen, freier Träger, Vereine, Wohlfahrtsverbände und Privatpersonen. Er existiert bereits seit einigen Jahren, hat jedoch durch die Ereignisse des diesjährigen Sommers massiv an Bedeutung gewonnen. Einstmals unpopuläre Themen, wie Alltagsrassismus, prekäre Lebenssituationen von Migranten, Behördenwillkür und Abschiebehaft, sind heute Gesprächsstoff, betreffen unterschiedlichste gesellschaftliche Schichten und sorgen für Spannungen und Gräben. Sinn und Zweck dieser Zusammenkunft ist, unter anderem über die Entscheidungen der Kommunal- und Bundespolitik in Bezug auf Migration und Asyl zu diskutieren. Aber auch das Protokollieren rassistischer Übergriffe ist dem Plenum ein wichtiges Anliegen, was ich durchaus verstehen kann. Heute geht es zum Beispiel eine Stunde darum, ob „Geflüchtete“ oder „geflüchtete Menschen“ auf dem neuen Flyer stehen soll. Auf keinen Fall Asylbewerber, Migranten, oder noch schlimmer Asylanten – da sind sich alle einig. Allein die Endung: -ant ist negativ konnotiert. Das haben Christian und ich bereits in einer der letzten Veranstaltungen gelernt. Genau wie Simulant, Ignorant, Querulant und Denunziant, ruft auch das Wort Asylant negative Assoziationen