Clausnitz. Sebastian Caspar
anzog und faszinierte. In seinen Augen funkelte etwas unergründlich Schönes, auf jeden Fall bildete ich mir dies damals ein. Vor einem Monat war ich fünfzehn geworden, die Jungs meiner Klasse waren hingegen auf dem Niveau eines Kleinkinds stehen geblieben, sodass niemand von ihnen in mir Gedanken an Körperlichkeit weckte. Einmal hatte ich mich mit einem Jungen auf den Mund geküsst. Das war in der sechsten Klasse und eher ein Versehen. Aber ich masturbierte seit meinem zehnten Lebensjahr und kannte somit die befreienden Tiefen eines Orgasmus und die Sucht danach. Kurzum, am dritten Abend unserer Fahrt saß ich mit zwei meiner Klassenkameradinnen im Zimmer von Gustave und wir tranken schweren süßen Wein. Die Flasche hatte er aus seinem Rucksack gezaubert und da ich noch nie wirklich Alkohol probiert hatte, war ich ziemlich schnell betrunken. Alles lief ineinander über. Zuerst verschwanden meine Mitschülerinnen aus dem Zimmer. Dann saß ich Gustave gegenüber und blickte in das dunkle Tief seiner Augen. Wir berührten uns an den Händen, küssten uns. Seine Zunge stieß fordernd in meinen Mund, er übernahm die Kontrolle, legte mich auf sein Bett. Dann löschte Gustave das Licht, leise sprach er französisch auf mich ein, wir fingen an, uns zu berühren.
Was dann geschah war ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Ein Mix aus an-die-Deckestarren und so zu tun, als wäre ich total erfahren. Doch in Wirklichkeit hatte ich Angst. Angst davor, dass er mir wehtut. Angst, allein zu sein. Angst, zu bluten – Gustave wusste nicht, dass ich noch Jungfrau war. Seine Hand glitt unter meine Bluse, griff gierig nach meinen Brüsten – es tat weh. Er zog mir Jeans und Slip herunter und drängte sich zwischen meine Beine. Ein tiefer Stich, mein Innerstes zog sich zusammen, ich verkrampfte. Gebannt blickte ich Gustave im Dunkeln an, atmete kaum, war ganz steif. Ein mechanisches Auf und Ab. Nicht mehr als drei Minuten. Er kam auf mir, keuchend, und ich spürte seinen heißen Atem an meinem Hals. Dann war alles vorbei und sein Interesse an mir verloschen. Er hatte mich gehabt, und wer weiß, die wievielte ich für ihn war. Er jedoch war mein erstes Mal und es liegt in der Natur der Dinge, dass man dieses nicht vergessen kann. Verschämt zog ich mich wieder an. Ich glaube, ich habe ihm sogar die Hand zum Abschied gereicht. Im Endeffekt hat er all seinen Freunden erzählt, dass er mich entjungfert hat. Ich hatte geblutet, zwar nur ein wenig, doch es reichte als Trophäe. Gustave habe ich nach der Zeit in Vichy nie wiedergesehen.
In der Zwischenzeit sind wir im Heim angekommen. Von außen scheint alles ruhig. Im Erdgeschoss haben wir ein kleines Büro, das wir an den Werktagen zwei Stunden besetzen, um die anfallende Arbeit der Geflüchteten zu erledigen. Zu unseren Aufgaben gehören unter anderem das Organisieren von Arztterminen und Erläutern von Behördengängen (in schwierigen Fällen begleiten wir die Geflüchteten auch dahin), Schul- und Kitaanmeldungen, Kontakt zu den DaZ-Klassen und Lehrern aufzubauen, Strafbefehle und Zahlungsaufforderungen abarbeiten und die ansässigen Wohnungsgenossenschaften zu bitten, Wohnraum freizugeben. Jeder der Heimbewohner möchte natürlich sofort hier raus, um seine eigenen vier Wände zu besitzen, doch dies ist nur in ganz wenigen Ausnahmen möglich, wie zum Beispiel bei Rafik. Während des laufenden Asylverfahrens, das sich gelegentlich Jahre hinziehen kann, vergibt das Ausländeramt keine Belegwohnungen. Selbst bei einem positiven Asylbescheid gibt es Abstufungen. Der Lotteriegewinn ist ein Aufenthaltstitel von drei Jahren. Man ist somit als wirklich Asylberechtigter anerkannt und darf sich frei im gesamten Bundesgebiet bewegen, wohnen wo man möchte und Arbeit aufnehmen. Mit einem Aufenthaltstitel von nur einem Jahr, das wäre der subsidiäre Schutz, hat man einer auferlegten Residenzpflicht Folge zu leisten, das heißt, man muss in dem Bundesland bleiben, in dem man angekommen ist. Wenn man in Sachsen-Anhalt oder Clausnitz gestrandet ist, schlägt das natürlich Vielen aufs Gemüt.
Nachdem wir die Kiste mit den Aktenordnern und Laptops aus dem Kofferraum geholt haben, trotten Christian und ich dem Eingang entgegen, Rafik läuft hinterher und raucht noch schnell eine Zigarette. An der Tür steht bereits Röhm. „Na … Vor eurem Büro ist eine Menge los.“, entgegnet er lapidar mit einem süffisanten Grinsen.
„Fuck“, ist das einzige, was Christian darauf einfällt.
„Ach ja“, fährt Röhm fort, „Nächste Woche gibt es vielleicht noch ein wenig Stress. Das lokale Bürgerbündnis hat eine Demo angemeldet. ‚Nein zum Heim‘ ist der Slogan. Kann lustig werden. Einigen Dorfbewohnern ist die GU ein echter Dorn im Auge.“
Wir treten auf den dunklen Flur, der nach Zigarettenrauch, arabischem Kaffee, Toilette und Bratenfett riecht und ich kann an dessen anderem Ende die Traube von Leuten vor unserem Büro stehen sehen, Amina ist nicht dabei.
Einige Minuten später bahnen wir uns den Weg durch eine Gruppe unterschiedlichster Nationalitäten. Am stärksten vertreten sind Syrer und Afghanen, gefolgt von Eritreern, Somaliern, Bewohnern des Kosovo, Indern, Pakistanis, Libanesen, einigen Türken und zwei Tunesiern. Ich kenne jeden der Männer ein bisschen und obwohl ich ihre Blicke auf meinem Körper spüren kann, stört mich dies nicht. Dazu ist mein innerer Schmerz einfach zu groß. Auch kann ich diese Menschen als Produkte einer verklemmten Gesellschaft wahrnehmen, einer Gesellschaft, in der Sexualität allumfänglich tabuisiert wird. Jeder Einzelne von ihnen hat sicher noch nie eine Frau nackt gesehen, geschweige denn berührt. Dem gegenüber fußt unsere Unmoral. Auswüchse einer satten verwahrlosten Bande. Pornographie als Bagatelle, massenhaft gewählter Lifestyle. Entblößungen auf allen Ebenen. Verloren, verarmt, zerstört. Aber im Grunde unserer Herzen sehnen wir uns alle nach Zärtlichkeiten. Nach Berührung und Verständnis. Vertrauen und Dankbarkeit. Unsere Seelen suchen Liebe, ein Leben lang. Ich habe sie gefunden, doch nicht gewusst, dass sie so wehtun kann.
Nachdem wir drei uns in das enge Büro gequetscht haben, schließen wir die Tür, denn wir wollen in Ruhe auspacken, die Laptops hochfahren, Kaffee ansetzen und kurz noch einmal durchatmen. Nach einigen Minuten jedoch bittet Rafik auch schon den ersten Klienten herein. Ein älterer Mann aus Syrien mit einem Stapel deutscher Behördenpapiere betritt scheu das Zimmer. Rafik bietet ihm mit der Hand einen Platz an, schüchtern setzt der Syrer sich an den Tisch. Rafik versucht auf Arabisch herauszubekommen, was sein Anliegen ist, parallel dazu sichten Christian und ich seine Dokumente. Seitenweise Aufschlüsselungen von Transferleistungen, detaillierte Gesetzestexte. Anschreiben, Rechte, Pflichten und Widerspruchsverfahren. Fristen, Hinweise, Belehrungen. Zwei monatliche Bescheide vom Amt können gute dreißig Seiten umfassen. Kein Wunder, dass da niemand durchblickt. Auch ist es völlig egal, was darauf steht, Hauptsache, das Geld kommt monatlich. Man könnte so vieles vereinfachen. Es muss der Wahnsinn sein, wie viele Tonnen Papier deutsche Behörden im Monat verbrauchen. Gibt es dazu Zahlen?
Der Syrer heißt Saleh und ist erst seit gut zwei Wochen in Deutschland. Er ist allein hier. Ob er Frau und Kinder hat, verschweigt er uns. Saleh wirkt hilflos und ich frage ihn über Rafik, woher er aus Syrien kommt – das interessiert mich wirklich. Saleh blickt mich daraufhin an, flüstert „Homs“, und seine Augen bekommen einen sehnsüchtigen Glanz. Ich schaue ihm ins Gesicht und nicke stumm. Saleh lächelt traurig. Wer weiß, was dieser Mann alles gesehen hat.
„Homs gleicht ja heute Dresden ’45“, poltert Christian und ich schüttele innerlich mit dem Kopf über soviel fehlende Sensibilität, denke aber auch einmal mehr, dass dieser Job einiges an Abwechslung bietet und bei Gott nicht langweilig wird. Die teils grotesken Erlebnisse, die meine Arbeit nicht unwesentlich prägen, nehmen mir den Druck, minimieren ein wenig mein Leid. Vertreiben den schwarzen Hund in mir und lassen mich kurz verschnaufen. Amina kennt meinen Schmerz. Sie ist die Einzige, die von meinem Leid weiß. Die Einzige, vor der ich mich für mein dekadentes Gehabe schäme. Meine Wehwehchen sind nichts im Vergleich zu ihrem Schicksal. Amina ist mein Vorbild. Sie ist mein letzter Strohhalm. Leider gelingt mir dieser Balanceakt nur hier im Heim. Wenn ich wieder nach Hause komme und allein bin, allein, in dieser dunklen kalten Wohnung, die mich aufnimmt wie ein schwarzes Loch, dann ist mir, als hause bei mir ein Dämon. Ich habe ihn gerufen und er ist gekommen. Darum verletze ich mich, darum richte ich mich zugrunde. Zerstöre Stück für Stück meiner selbst. Ich habe einen Pakt geschlossen – die größte Liebe für den tiefsten Schmerz. Oh, verloren!
Salehs Anliegen sind schnell abgearbeitet, das meiste war sowieso Papiermüll. Er muss sich bei der Volkshochschule zum Sprachkurs anmelden und kommende Woche einen Termin beim Ausländeramt wahrnehmen. Mir ist wichtig, ihn wissen zu lassen, dass dieser Termin nichts mit seinem Asylverfahren zu tun hat – dieses wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bearbeitet. Ich gebe mir viel Mühe, Saleh dieses