Clausnitz. Sebastian Caspar
nicht passieren kann. Saleh nickt sanft und lauscht Rafiks Übersetzung. Er kann sicherlich nicht erfassen, welche Tragweite dies alles hat. Aber das kennen wir bereits.
Mindestens die Hälfte unserer Arbeitszeit im Heim investieren wir in Erläuterungen über die Langsamkeit des Rechtsstaates und dessen unendlichen Variationen und Aktenlabyrinthe. Auch üben wir uns mehr schlecht als recht in Beschwichtigungen. Niemand kann die reale Umsetzung des Gesetzgebers verstehen, geschweige denn, ein System darin erkennen. Dieser Umstand bereitet vielen unserer Klienten Sorgen. Sie fühlen sich vergessen, ohne Zukunft. Ich habe Menschen getroffen, die seit fünfzehn Jahren in wechselnden Heimen leben – tausende Szenarien stehen bereit. Ein Aufenthaltstitel kann aus verschiedensten Gründen nicht gewährt werden. Fehlende Papiere oder drohende Todesstrafe im Herkunftsland sind auf der anderen Seite eindeutige Abschiebehindernisse.
Saleh scheint jedoch zufrieden mit unserer Beratung und hat sich mit Rafik schon etwas angefreundet, auf jeden Fall plappern sie auf Arabisch, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Aber da ich endlich nach Amina schauen möchte, sage ich in die Runde: „So, ich gehe jetzt zu Amina. Bin gleich zurück.“
„Ja, ja. Das kennen wir ja schon“, meint Christian darauf. „Aber geh nur, ist okay.“
Eigentlich ist Christian ein angenehmer Arbeitskollege, wenn er nicht immer so überschäumend, so aufgebracht wäre. Er hat ein mitunter ungezügeltes Temperament, doch er ist aufrichtig, spielt keine Spielchen. Ich mag Christian, und wenn ich ehrlich bin, nicht nur sein Wesen, auch sein Aussehen gefällt mir. Für sein Alter hat er einen gut durchtrainierten Körper, geht viel klettern, sagt er. Christian baggert mich nicht an, das würde er nie tun, das weiß ich. Manchmal gibt er mir sogar das Gefühl, mich zu respektieren. Ich meine, über das kollegiale Ziel hinaus, als Frau, und das ist auch absolut okay. Ich weiß, ich könnte ihn nachts anrufen und um Hilfe bitten. Er würde keine Sekunde zögern. Christian kümmert sich auch gewissenhaft und ohne zu murren um den ganzen Papierkram. Mails an die Geschäftsleitung, den Jahresbericht runtertippen, Statistiken erheben, mit dem Amt kommunizieren, und all diese Dinge.
Ich stehe auf, gehe an Saleh vorbei, öffne die Tür und stehe plötzlich vor einer Traube junger, augenscheinlich arabischer Männer. Für einen Augenblick ist dies ziemlich einschüchternd, doch ich lächele freundlich, braune Augenpaare blicken mich an. Jeder der Jungs lächelt aber zurück, alle geben mir höflich den Weg frei. Und als ich die Treppen hinauf in den ersten Stock steige, realisiere ich, dass ich seit zwei Tagen wirklich nichts gegessen habe.
24
Im ersten Stock angekommen, gehe ich den langen dunklen Flur entlang. Vorbei an den Zimmern, in denen die Geflüchteten untergebracht sind. Hier, in diesem, wohnt eine albanische Familie. Die Tür ist nur angelehnt, sodass man darin Betten sehen kann. In einem liegt ein kleines Kind und schläft. Was mag dies wohl für eine Kindheit sein? Ständig auf der Suche, einen Monat hier, einen Monat dort. Keine Freunde, keine Sicherheit. Ich kenne die Familie, sie sind Roma. Diese Ethnie wird, wie fast überall in Europa, diskriminiert. Die meisten von ihnen leben in Ghettos unterhalb der Armutsgrenze. Es sind keine Kriegsflüchtlinge, ihre Flucht ist die andauernde Suche nach einem besseren Durchkommen und das Normalste der Welt. Die zweite Tür ist verschlossen, doch die dritte ist wie die erste nur angelehnt. Hier dudelt arabischer Hip-Hop aus dem Zimmer, drei junge Marokkaner sind hier einquartiert. Junge Typen, gestylt, aber abgezehrt und mit tief liegenden Augenhöhlen. Mir ist noch keiner von ihnen irgendwie schräg gekommen. Eher wirken sie auf mich schüchtern und verlegen, aber sicher, ich merke ihren Hunger. Ihr Verlangen nach den Knospen des Lebens, und ich kann sie verstehen. Ich wette, dass alle drei von ihnen noch Jungfrau sind und ihr Verlangen mit einer großen Unsicherheit einhergeht. Es ist ein Problem, wenn das Natürlichste im Menschen tabuisiert wird.
Heutzutage scheinen in fast allen muslimischen Gesellschaften zwischenmenschliche Zärtlichkeiten ein Problem zu sein. Das ist traurig und dramatisch. Die meisten Gläubigen wissen nicht mehr, dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der islamischen Welt eine lebendige erotische Kultur existierte, eine Kultur, die sich in Dichtung, Geschichten und Ratgebern niederschlug. Selbst im Koran werden Erotik und der sexuelle Genuss als etwas Positives angesehen. Prophet Mohammed verwies sogar auf die Bedeutung des Vorspiels und legte seinen damaligen Weggefährten nahe, den Geschlechtsakt erst zu beenden, wenn auch die Frau ihren Höhepunkt erlangte. Selbst Homoerotik war ein fester Bestandteil der klassischen Dichtung des arabischen und persischen Raumes. Doch wohin ist dies alles verschwunden?
Einige Historiker sind der Meinung, dass die durch die Kolonialmächte ausgelöste Industrialisierung in den besetzten muslimischen Gebieten eine große Schuld an dem Verschwinden der Freizügigkeit hat. Bildungsferne und konservative Landbevölkerungsteile strömten in relativ kurzer Zeit in die Städte, was eine demografische Umstrukturierung der gesellschaftlichen Schichten und die Kopplung der Religion mit dem Staat nach sich zog, sodass eine Institutionalisierung des Islams aufkeimte. Das Ergebnis erleben wir nun seit einigen Jahrzehnten. Frauen müssen sich verhüllen. Die Burka in Afghanistan ist sicherlich das krasseste dieser Beispiele, unter der die Frau aus dem öffentlichen Raum komplett verschwindet. Nun, kurzum, die Frauen, aber auch die drei marokkanischen Jungs tun mir leid. Sie sind Produkte ihrer Umwelt, die Summe der Prägungen, die ihnen zuteilwurden. Und nein – ich urteile nicht. Durch meine Beobachtungen versuche ich zu verstehen, was die drei sich erhoffen. Was ihre Träume sind, ihre Sehnsüchte. Und dann denke ich daran, dass wir ihnen nichts zu bieten haben, da wir selbst voller Zweifel sind. Es gibt keine Steigerung mehr. Das Ampelmännchen (und sein neuerdings weiblicher Gegenpart), Gewaltpornos und heuchlerische Biogütesiegel. Wir sind feist und satt. Ohne überhaupt auch nur im Ansatz zu verstehen, was es bedeutet.
Aus der Gemeinschaftsküche, die auf jedem der Flure zu finden ist, strömt ein Gemisch aus gebackenem Brot, Olivenöl und gekochtem Gemüse. Und diese Melange steht wie eine Wand vor mir und wird durch das olfaktorische System meiner Nase aufgenommen, um als elektrisches Signal durch die Axonen an mein Gehirn weitergeleitet zu werden. Dort bricht augenblicklich ein Kampf aus, ein Ringen um die Vorherrschaft. Die eine Partei fordert unbedingte Nahrungsaufnahme, sämtliche Alarmglocken meines Organismus schrillen. „Iss endlich was! Beende diese selbst auferlegte Folter.“ Dem gegenüber steht der Dämon, der flüstert: „Essen macht dich unattraktiv. Wie willst du ihm so jemals gefallen?“ Und unter der Macht dieses Pendels, dieser unausgegorenen Entscheidungsfindung, taumele ich der Tür von Aminas Zimmer entgegen. Auf einmal scheint alle Kraft, die mich in den letzten Tagen noch zusammenhielt, verschwunden. Jeder Schritt lässt meine Contenance mehr und mehr zerbröseln, und als ich an Aminas Tür klopfe, muss ich mich an deren Rahmen festhalten, so schwindlig ist mir. Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit, Aminas Augen blicken mich an, nun schwingt die Tür ganz auf und ich falle vornüber in Aminas Arme, verliere das Bewusstsein.
Ich erwache wie aus einem Traum. Es ist dunkel um mich herum. Ich liege auf Aminas Bett und mein Kopf auf ihrem Schoß. Ihre Hände umschließen mein Gesicht, sanft streichelt sie mir die Stirn. Und obwohl es dunkel in ihrem Zimmer ist, kann ich ihr blasses Gesicht, was von einem Tschador umschlossen wird, erkennen, und durch diese muslimische Umrahmung sieht sie aus wie die Jungfrau Maria. Ein Paradoxon, aber so nehme ich es wahr. Ich atme schwer, beginne etwas zu weinen und Amina sagt in ihrem gebrochenen Deutsch: „Alles gut. Du in Sicherheit.“ Der Klang ihrer Stimme ist wie ein Balsam für meinen Schmerz, Medizin für meine Trauer und Schwäche.
„Ich machen Tee, ja? Du müssen auch essen. Siehst nicht gut aus.“
„Aber … ich kann nichts essen“, bringe ich gequält hervor.
„Nicht viel. Nur bisschen“, erwidert Amina darauf.
Sie steht auf und geht in eine der Ecken ihres Zimmers, knipst eine kleine Lampe an, um den Wasserkocher zu betätigen. Amina kniet sich wirklich mächtig in die deutsche Sprache rein, lernt diszipliniert wie ein eifriges Schulkind, und ich bin stolz auf sie. Komplexere Gespräche führen wir auf Englisch, das können wir beide ziemlich gut. Dadurch wissen wir beide bereits ziemlich viel voneinander, obwohl wir uns erst einige Wochen kennen. Ich richte mich jetzt auf und lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Meine braunen Chelsea Stiefeletten von Antony van Diyck hat Amina mir von