Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom. Etta Wilken

Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom - Etta Wilken


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ausführliche ergänzende Briefe geschrieben, die beeindruckende Erfahrungen und Einstellungen vermitteln.

      »Mein Bruder benötigte viel Aufmerksamkeit, aber ich wurde dadurch nicht benachteiligt … Außerdem wurden mir andere Aufmerksamkeiten zuteil, an denen er nicht beteiligt war. Dass das so gewesen ist, liegt jedoch an meinen Eltern und an der Art und Weise, wie sie mit meinem Bruder und mir umgegangen sind. Insgesamt denke ich, sind wir mit allem normal umgegangen. Seine Behinderung und die notwendigen Therapien waren, so habe ich es zumindest empfunden, weder ständiges Thema bei uns, noch war mir seine Behinderung immer bewusst. Er ist eben so wie er ist.«

      Einige kritische Anmerkungen betrafen die Unterschiede zwischen der Alltagserfahrung innerhalb der Familie und der Einstellung außenstehender Menschen zur Behinderung. »Weder meine Eltern noch ich fühlten uns dazu berufen, das Down-Syndrom meines Bruders übermäßig zu problematisieren, geschweige denn, seine Behinderung zum Anlass zu nehmen, uns selbst zu verwirklichen.«

      »Mir erschien und erscheint es auch heute vielfach so, dass Mitmenschen von mir erwarten, bedingt durch die Behinderung meines Geschwisters, Probleme zu haben. So wurde ich häufig von anderen gefragt, ob ich mich benachteiligt fühle. Verneinte ich diese Frage, wurde mir gesagt, ich könne es doch ruhig zugeben, nur hatte ich nichts zuzugeben. Diese Erwartungshaltung anderer kann mitunter störender sein als die Behinderung eines Geschwisters – die für einen selbst zum Alltag gehört.«

      Auch wenn viele Geschwister eines Kindes mit Down-Syndrom feststellten, dass es in der Familie spezielle Probleme geben kann, ist doch offensichtlich, dass die meisten ihre besondere Familiensituation gut verarbeitet haben.

      Oft wird vermutet, dass Geschwister behinderter Kinder häufiger einen sozialen Beruf wählen. Entsprechend sahen die befragten Brüder und Schwestern die Auswirkung ihrer Familiensituation auf ihren Berufswunsch bzw. ihre Berufswahl unterschiedlich.

      Während nur ein Bruder schrieb, dass seine Familiensituation seine Berufswahl beeinflusst hat, bestätigten 34 Prozent der Schwestern eine solche Auswirkung. Vergleicht man jedoch die tatsächlich gewählten Berufe von Brüdern und Schwestern mit der allgemein typischen Berufswahl von Männern und Frauen, so zeigen sich keine entsprechenden deutlichen Unterschiede in der sozialen Ausrichtung. Es handelt sich somit eher um eine subjektiv andere Wahrnehmung der beeinflussenden Wirkung.

      Vielen Geschwistern war es wichtig, ihre Erfahrungen noch differenzierter zu kommentieren. Dabei beschrieben sie sowohl positive als auch negative Aspekte. Bedeutsam erscheinen mir der häufig betonte Zeitfaktor und die erlebte elterliche Aufmerksamkeit bezogen auf eigene Bedürfnisse. Wenn so viele Geschwister das Gefühl haben, ihre Mutter bzw. ihre Eltern hätten zu wenig Zeit für sie gehabt, dann sollten die Familien versuchen, dieses Problem zu besprechen und machbare Lösungen zu finden. Auch Achilles (2014, 45) hält den Zeitfaktor für wesentlich: »Kinder sollten möglichst nie zu hören bekommen: ›Ich habe jetzt keine Zeit‹ – die Geschwister behinderter oder chronisch kranker Kinder erst recht nicht. Sie stecken so oft zurück, da ist die Ansprechbarkeit der Eltern für sie von allergrößter Wichtigkeit.«

      Solche Forderungen sind jedoch zu relativieren, damit nicht unangemessene Ansprüche entstehen und noch mehr Druck auf die Eltern erfolgt. Auch in anderen Familien ist Zeit nicht beliebig verfügbar und oft müssen für unvorhersehbare Probleme mühsam kreative Lösungen gefunden werden.

      Einige Geschwister berichteten von interessanten Ideen, die ihre Familien entwickelt haben. So schrieb eine Schwester, dass sie mit ihrer Mutter einmal in der Woche ihren gemeinsamen Frauentag gestalteten, an dem sie beispielsweise ins Kino gingen oder zum Schwimmen und in die Sauna. Manchmal verlebten sie miteinander auch nur einen ungestörten (!) Klönabend zu Hause. Alle Freundinnen hätten sie um diesen besonderen Abend beneidet. Oft spielt eben nicht nur die tatsächlich miteinander verbrachte Zeit eine Rolle, sondern wichtig ist die Qualität der gemeinsam gestalteten Zeit.

      Ähnliches gilt für die Aufmerksamkeit gegenüber den Kindern. Es lohnt schon, über die Reihenfolge nachzudenken, in der sie Zuwendung oder Aufmerksamkeit erhalten. So ist es zum Beispiel nicht nötig, dass jeder Besuch sich zuerst dem behinderten Kind widmet oder sich nach ihm erkundigt (»selbst meine Patentante«). Oder dass die Großeltern, wenn sie kommen, sich zuerst dem behinderten Kind zuwenden und danach erst den übrigen Geschwistern.

      Auch das Verhalten und die einzelnen Leistungen der Geschwisterkinder sollten angemessen beachtet und gelobt werden. So erfreulich Entwicklungsschritte eines behinderten Kindes sind, die Geschwisterkinder brauchen in gleicher Weise die Erfahrung, dass ihre Leistungen entsprechend gewürdigt werden.

      Von erwachsenen Geschwistern wurden öfter Fragen gestellt, die sich auf altersbedingte Veränderungen in der Familiensituation bezogen und auf mögliche neue Verantwortung und Pflichten, die sich daraus für sie ergeben. So können alt gewordene Eltern manchmal nicht mehr alles für das behinderte Geschwister regeln. Es gibt Schwierigkeiten bei der Alltagsgestaltung zu Hause. Krankheit oder Tod eines Elternteils erfordern oft neue Regeln des Miteinanderlebens. Es sind Entscheidungen über den künftigen Lebensort zu treffen. Manchmal kommen gesundheitliche Probleme des behinderten Geschwisters hinzu und erfordern spezielle Lösungen. Einige Geschwister wünschen sich einen Themen bezogenen Austausch – vor allem wenn sie keine weiteren nicht behinderten Geschwister haben und sich allein für ihre Familiensituation verantwortlich fühlen. Es kann deshalb sinnvoll sein, dass Geschwister sich in bestehenden Internetforen austauschen (www.erwachsene-geschwister.de) oder speziell angebotene Veranstaltungen für erwachsene Geschwister zum Austausch von Erfahrungen und aktuellen Fragen nutzen.

      Die Antworten in den Fragebögen weisen ganz deutlich darauf hin, welche Schritte und Einstellungen für die Familien hilfreich sind: Je besser es den Eltern gelingt, ihre besondere Familiensituation zu bewältigen, um so mehr können sie auch den Geschwistern vermitteln, ihre Familie als »normal« zu erleben und mit auftretenden Schwierigkeiten umzugehen. Dazu gehört auch, den Geschwistern in altersangemessener Form Informationen über das Down-Syndrom und die damit verbundenen Beeinträchtigungen zu vermitteln.

      Hilfreich können für jüngere Geschwister die verschiedenen angebotenen Bilderbücher sein. Geeignet sind z. B. Planet Willi (Müller, 2012) oder Einfach Sontje (Irl, Sattler, Hilgner 2014). Für größere Kinder können Broschüren, die von den verschiedenen Selbsthilfegruppen herausgegeben wurden, Basisinformationen bieten. Auch das Heft »Down-Syndrom und ich«, das eigentlich vor allem für Jugendliche und Erwachsene mit Down-Syndrom geschrieben wurde, kann – gerade mit der beiliegenden DVD – auch Geschwistern gute Informationen vermitteln (Halder 2011).

      Ohne mögliche Probleme zu verdrängen, ist die besondere Situation mit dem behinderten Bruder oder der Schwester für die meisten Geschwister keine zu große Belastung, wenn es den Eltern gelingt, die verschiedenen Bedürfnisse und Ansprüche in der Familie hinreichend ausgewogen zu berücksichtigen. Die Geschwister akzeptieren fast immer nötige Mehrbelastungen und die Übernahme zusätzlicher Verantwortung. Allerdings sollte man ihnen nicht zu große Verpflichtungen oder zu häufige Rücksichtnahme zumuten und ihnen ein Anrecht auf »eigenes Leben« zugestehen. Wenn Geschwister dagegen erleben, geliebt und gleichberechtigt zu sein, ist eine Haltung möglich, wie sie ein 15-jähriges Mädchen bezüglich ihres älteren Bruders mit Down-Syndrom zum Ausdruck bringt: »Ich sehe das Leben mit meinem Bruder als Herausforderung und Bereicherung an« (Wilken 2001a).

      3.6 Familienangehörige, Freunde, Nachbarschaft

      Durch Berichte in den Medien und entsprechende Öffentlichkeitsarbeit vor allem von Selbsthilfegruppen hat sich eine bessere Akzeptanz von Kindern mit Down-Syndrom sowohl in der erweiterten Familie und im Freundeskreis als auch in der Gesellschaft insgesamt entwickelt. Dadurch gelingt es den Eltern heute besser, ihre besondere Aufgabe anzunehmen, und den Geschwistern wird erleichtert, sich positiv mit ihrer Familiensituation auseinanderzusetzen – ohne bestehende mögliche Schwierigkeiten zu verdrängen.

      »Jede Behinderung hat erhebliche psychosoziale Folgen für die Angehörigen; die maßgebliche Betrachtungseinheit ist deshalb nicht allein das von einer Behinderung betroffene Kind, sondern sein soziales und insbesondere


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