Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom. Etta Wilken

Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom - Etta Wilken


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ausgewählter Therapiemaßnahmen zu treffen. Allerdings kommt es oft aufgrund überlanger Wartezeiten bis zum Beginn der Frühförderung in guter Absicht zur Verordnung einzelner Therapien, um auf keinen Fall etwas zu versäumen und »rechtzeitig« mit der Förderung anzufangen. Das betrifft – wie auch die Heidelberger Studie zeigt – vor allem die Physiotherapie. Aber ohne eine ganzheitliche Sicht auf die Familiensituation können in dieser frühen Phase der Auseinandersetzung mit der Behinderung die elterlichen Bedürfnisse, aber auch die kindlichen Ansprüche auf liebevolle Zuwendung, erheblich beeinträchtigt werden.

      »Während der radikalen Physiotherapie, zu der uns Oskars Fachärztin unmittelbar nach der Entlassung verdonnert hat, hören wir Oskar endlich mal richtig schreien … Drei- bis viermal am Tag muss ich auf bestimmte Punkte seines schlaffen Körpers drücken, damit er reflexartig jene Bewegungen ausführt, die er noch nicht bewusst beherrscht … Erst wenn Oskar in ein infernalisches Weltuntergangsgebrüll ausbricht, ist der ›gewünschte Aktivierungszustand‹ erreicht. Mein Mann findet: ›Das grenzt an Kindesmisshandlung.‹ Die dreijährige Schwester sagt: ›Mama, das darfst du nicht.‹ Ich bleibe stur: ›Wir müssen dem Oskar auch Sachen beibringen, die er gar nicht lernen will.‹« (Flamm 2015, 14)

      Eltern benötigen auch Informationen über spezifische Aspekte der Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom und allgemein über ein angemessenes entwicklungsorientiertes Kommunikations- und Erziehungsverhalten. Dazu ist wichtig, nicht nur typische Defizite aufzuzeigen, sondern eine positive Erwartungshaltung zu vermitteln und auf Möglichkeiten zu verweisen, was Eltern selbst in ihrem Alltag tun können, um ihr Kind zu fördern. Besonders eine feinfühlige Eltern-Kind-Interaktion und Anregungen für gemeinsame freudige Kommunikation haben sich als wichtiger erwiesen als zu viele spezielle Maßnahmen. Auch Kontakte zu anderen Eltern und der gemeinsame Austausch von Erfahrungen werden von vielen Eltern als hilfreich erlebt.

      Ein wichtiger Aspekt ist die Dauer verordneter besonderer Therapien. Dabei geht es auch um die Frage, wann hinreichende Förderung und positive Anregungen überwiegend durch gemeinsame Aktivitäten in der Familie und in außerhäuslichen Institutionen mit anderen Kindern erfolgen können. Das schließt durchaus ein, dass beim Vorliegen eines spezifischen Problems eine fachkundige Diagnose erfolgen muss und dann eine entsprechende Behandlung erfolgen sollte, um anschließend eine entsprechende Behandlung einzuleiten.

      Die Lebensbedingungen und Entwicklungsperspektiven von Kindern mit Down-Syndrom haben sich durch die Behandlung rechtzeitig erkannter gesundheitlicher Beeinträchtigungen und durch spezielle Therapien erheblich verbessert, aber es ist oft schwierig für Eltern zu entscheiden, was und wie viel tatsächlich erforderlich ist. Das bestehende vielfältige Angebot an Therapien und Fördermaßnahmen macht es nötig, sich genau zu orientieren. Trotzdem ist es relativ schwierig, eine Entscheidung zu treffen. Die unterschiedlichen Therapieansätze lassen oft nicht deutlich erkennen, ob die Wirkungen bestimmter Verfahren eher spekulativ oder wirklich gesichert sind und welche Entwicklung das Kind ohne diese Maßnahmen tatsächlich nehmen würde. Eltern benötigen deshalb einfühlsame Beratung und Kriterien, um das vielfältige Angebot an Therapien und Förderkonzepten kritisch zu reflektieren und auch die theoretischen Grundlagen und Methoden für ihr Kind und ihre Familie bewerten zu können.

      »Der Fördermarathon, durch den wir Oskar im ersten Lebensjahr gejagt haben, kommt mir inzwischen irre vor. Ging es um ihn oder um mich? Habe ich versucht seine Defizite wegzutherapieren, anstatt sie zu akzeptieren?« (Flamm 2015, 14)

      Ohne die Bedeutung der verschiedenen Förderangebote, welche die Eltern dabei unterstützen können, günstige Entwicklungsbedingungen für ihr Kind mit Down-Syndrom zu gestalten, gering zu achten, ist doch darauf hinzuweisen, dass viele Ratgeber und Informationen insgesamt oft den Eindruck vermitteln, dass die kindliche Entwicklung ganz wesentlich von der Durchführung bestimmter Fördermaßnahmen abhängig sei. Aber Entwicklung ist nicht vor allem machbar! Durch eine zu enge Orientierung an solchen Ratgebern, die überwiegend beschreiben, was man mit oder gar an dem Kind alles tun muss, damit es sich »optimal« entwickelt, wird oft ausgeblendet, welche wesentliche Bedeutung die kindliche Eigenaktivität und Neugier hat. Gerade die wichtige Fähigkeit des Kindes, selber Erfahrungen zu machen, aus eigenem Antrieb etwas zu wiederholen und zu lernen, kann dadurch irritiert werden.

      Die Entwicklung der Kinder ist nicht von uns »machbar«! Wichtig ist vielmehr die Förderung der kindlichen Eigenaktivität.

      Problematisch ist zudem, dass Eltern dadurch überfordert und verunsichert werden können und sich Sorgen machen, weil sie sich nicht in der Lage sehen, genug für die nötige Förderung ihres Kindes zu tun.

      Die Entwicklung eines jeden Kindes verläuft sehr individuell, sie folgt in gewissem Ausmaß ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Und nicht jede Abweichung von der durchschnittlichen Entwicklung verlangt nach therapeutischer Korrektur! Es besteht vielmehr eine große Variabilität im Entwicklungstempo und in der Abfolge der einzelnen Entwicklungsschritte – das gilt gerade auch für Kinder mit Down-Syndrom. Allerdings ist es wichtig, problematische Abweichungen mit möglichen Folgebeeinträchtigungen rechtzeitig zu erkennen und möglichst zu vermeiden.

      Die erforderliche Gelassenheit und das notwendige Vertrauen in die Entwicklung des Kindes drückt ein afrikanisches Sprichwort treffend aus: »Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht!« Aber – so ist zu ergänzen – es ist natürlich möglich, ein günstiges Klima und gute Bedingungen zu schaffen, damit das Kind sich seine Welt aneignen kann. Das bedeutet für Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, einen sinnvollen Weg für sich zu finden, ihrem Kind einerseits die wichtigen Entwicklungsanregungen zu bieten und andererseits abzuwägen, was und wie viel an besonderer Förderung individuell wirklich sinnvoll und familiär leistbar ist.

      4.1 Entwicklungsfördernde Bedingungen und therapeutische Maßnahmen

      Alle Kinder entwickeln sich durch eigene Aktivität und positive Erfahrungen. Sie sind angewiesen auf die Erfüllung physischer und psychischer Grundbedürfnisse. Sie benötigen Anregung und Ermutigung zu eigenmotiviertem Erkundungs- und Betätigungsverhalten. Förderung bedeutet deshalb nicht vor allem ein Antrainieren von Fertigkeiten, sondern Hilfe zur Entwicklung von Neugier, Erkundungsverhalten und selbstmotivierter Lernaktivität. Bei gemeinsamen Aktivitäten und in familiären Alltagssituationen, die dem Kind und den Bezugspersonen Freude bereiten, können die Eltern die kommunikativen Angebote und aktuellen Interessen ihres Kindes wahrnehmen, um dann mit responsivem Verhalten sensibel darauf einzugehen und neue Lernschritte zu unterstützen. Dabei meint Responsivität die Fähigkeit, kindliche Aktivität sensibel wahrzunehmen und darauf verbal und mit antwortendem Verhalten einzugehen – in Abgrenzung zur Direktivität, die durch Anweisung, Aufforderung und Korrektur in der Interaktion zuvor festgelegte Ziele erreichen will.

      Vor allem im häuslichen Bereich erfahren die Kinder in wechselseitigem Austausch mit den sie umgebenden Personen und Dingen die Bedeutsamkeit ihres eigenen Handelns. Dabei lernen sie gerade durch die normalen gemeinsamen Tätigkeiten bei Ernährung und Pflege und können sich zunehmend mitbeteiligen und selbstständig werden. Förderung erfolgt dann ganz selbstverständlich in diesen Alltagssituationen und ist keine isolierte »Übungsmaßnahme«. Auch kann das Kind in den verschiedenen Alltagshandlungen seine Kompetenzen erleben, wenn es bei der Selbstversorgung oder bei Mithilfe in der Familie seinen


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