Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 4 – Familienroman - Patricia Vandenberg


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      Nun war Nick zufrieden. Einige Minuten später saß er neben dem jungen Mann im Auto, um nach Sophienlust hinüberzufahren. Dort warteten Pünktchen und Tanja schon auf die beiden. Bereitwillig gab das größere Mädchen auf alle Fragen des jungen Archäologen Antwort.

      Bei Tanja war es viel schwieriger. Sie war noch zu klein, um sich präzise ausdrücken zu können, und oft vermischten sich bei ihr Fantasie und Wirklichkeit.

      Klaus Herzberg brachte überraschend viel Geduld und Verständnis für das Kind auf. Und Tanja spürte, dass es der junge Lehrer gut mit ihr meinte. Sie wurde immer zutraulicher.

      »Dunkel war es«, berichtete sie und schüttelte sich noch nachträglich. »Ganz finster. Ich konnte nicht einmal meine Füße sehen. Und kalt war es auch. Ich habe sehr gefroren. Und dann habe ich eine Entenhaut bekommen. Kennst du das?« Sie sah den Lehrer treuherzig an.

      »Gänsehaut«, verbesserte Klaus lachend. Die Kleine mit den blonden Schaukelzöpfchen und den strahlend blauen Augen gefiel ihm. Immerzu hätte er das süße kleine Geschöpf ansehen mögen.

      Tanja spürte das wohl, denn sie lehnte sich vertrauensvoll an den jungen Mann und plapperte unbesorgt darauflos.

      »Und dann hat Torsten gegraben und ist an den Stein gestoßen. Aber es war kein Stein, sondern eine Schatztruhe. Bestimmt ist ganz viel Geld darin und Perlen und echte Steine.« Tanja bekam heiße Bäckchen.

      »Hast du auch das Kreuz an der Wand gesehen?«, forschte Klaus Herzberg vorsichtig.

      Tanja legte das Köpfchen schief und holte tief Luft. »Das Kreuz war riesengroß.« Sie breitete weit die Ärmchen aus. »Ganz schwarz, aber aus Gold …« Sie zögerte, denn ihr wurde klar, dass diese Aussage nicht ganz glaubwürdig war.

      Klaus Herzberg seufzte. Er hatte bereits drei verschiedene Schilderungen von diesem Kreuz. Welcher sollte er glauben?

      »Du musst Torsten fragen«, meinte Tanja. »Torsten hat das Kreuz besser gesehen, weil er es mit der Taschenlampe angeleuchtet hat.«

      »Und wo ist Torsten?«, ging Klaus auf den Vorschlag der Kleinen ein.

      Tanjas Gesichtchen verfinsterte sich auffallend. »Der Onkel hat ihn mitgenommen. Aber das darf er gar nicht. Weil unsere Mami gesagt hat, dass wir beisammenbleiben sollen.« Sie schnupfte.

      »Du hast wohl Heimweh nach deinem Bruder?«, meinte der junge Lehrer mitleidig.

      »Ich bin ganz traurig, wenn ich an ihn denke«, berichtete Tanja wahrheitsgemäß.

      »Du musst nicht traurig sein.« Klaus fuhr über den blonden Scheitel der Kleinen. »Irgendwann seid ihr wieder beisammen, und dann ist alles wieder gut.«

      »Wann ist das?«, wollte Tanja wissen. Aufmerksam schaute sie den jungen Lehrer an. Das fröhliche Gesicht mit dem lausbubenhaften Lächeln gefiel ihr. Ein bisschen erinnerte es sie an den Vater. Der hatte auch so gern gelacht. Und oft hatte er sie übermütig durch die Luft geschwenkt.

      »Bald, Tanja.« Klaus lächelte dem kleinen Mädchen aufmunternd zu. »Vielleicht hilfst du mir jetzt, die Zeichnung anzuschauen, die Nick gemacht hat.« Er zog ein zusammengefaltetes Blatt aus der Innentasche seiner Lederjacke.

      Vertrauensselig rutschte Tanja näher.

      »Hier war der Eingang, und dann seid ihr in diese Richtung weitergegangen.« Klaus Herzberg fuhr die Linien mit dem Bleistift nach.

      Tanja zog das Stupsnäschen kraus, wie immer, wenn sie sich einer Sache nicht ganz sicher war.

      »Nach etwa hundert Metern erweiterte sich der Gang. Weißt du das noch?«

      »Da ist die Erde heruntergefallen«, piepste das Kind weinerlich.

      »Und wo war das Kreuz?«

      Tanja deutete zielsicher auf die Wand nach Süden. Dieselben Angaben hatten auch Nick und Pünktchen gemacht. Also herrschte wenigstens in diesem Punkt Einigkeit.

      »Und wo hat Torsten das Kästchen gefunden?«

      Tanja überlegte. »Gleich neben dem Loch, das Nick gegraben hat.«

      Der junge Archäologe machte eine entsprechende Eintragung.

      »Bekommen wir jetzt viel Geld?«, fragte Tanja neugierig. »Für das Kästchen, meine ich. Nick sagt, es sei ganz viel wert.«

      »Sicher ist es das. Was ihr dafür bekommt, kann ich allerdings nicht sagen. Wenn es so weit ist, komme ich auf alle Fälle wieder her. Mach’s gut inzwischen, Tanja!« Klaus gab der Kleinen einen kameradschaftlichen Klaps.

      *

      Die Bibliothek war der düsterste Raum in dem ohnehin nicht freundlichen Haus des Fabrikanten Johannes Ertel. Die Wände waren mit hohen dunklen Regalen verstellt, in denen ledergebundene Bücher standen.

      Vor dem einzigen Fenster dieses großen Raumes stand ein schwerer Eichentisch. Miss Scott saß auf der einen, Torsten auf der anderen Seite. Sie hatte ein englisches Lehrbuch vor sich und las dem Kind einen Text daraus vor.

      Torsten verstand kein einziges Wort. Er langweilte sich. Eigentlich mochte er die Schule gern. Dort hatte er auch eine nette junge Lehrerin gehabt, die es verstanden hatte, die Stunden abwechslungsreich und interessant zu gestalten. Miss Scott hingegen beschränkte sich auf den trockenen Lehrstoff. Ihr Gesicht blieb die ganze Zeit über streng und unnahbar. Nicht ein einziges Mal sah sie Torsten freundlich an, ermunterte ihn niemals durch ein kleines Lob.

      Der Junge sah durchs Fenster. Draußen schien die Herbstsonne. Noch blühten die Dahlien in verschwenderischer Pracht. Die Pfauen stolzierten mit majestätisch erhobenen Köpfen über den grünen Rasen. Einer schlug eben ein Rad. Die Sonne ließ die bunten Federn intensiv aufleuchten. Stolz drehte sich das Tier nach allen Seiten. Es bot einen imponierenden Anblick. Torsten lächelte verträumt.

      In diesem Augenblick wurde er hart und schmerzhaft am Ohr gezogen. »Willst du mir wohl zuhören?«, kreischte die strenge Miss. »Du hast während des Unterrichts nicht in den Garten zu sehen! Und damit du gar nicht mehr in Versuchung kommst, ziehe ich jetzt die Vorhänge zu!« Miss Scott setzte ihren Entschluss sofort in die Tat um.

      Wieder las die Erzieherin einen englischen Text vor. Ihre Stimme klang monoton und einschläfernd.

      Torsten sah eine Weile vor sich hin. Seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an Tanja, die in Sophienlust geblieben war. Wie schön, wie heiter war es doch dort. Dort waren alle Räume hell und freundlich, dort gab es keine steife Engländerin, dort wurde laut und fröhlich gelacht.

      Der Junge fasste in die Hosentasche. Seine Hände berührten einen kleinen Ball, den Angelika ihm geschenkt hatte. Das war ein Mädchen, das auch keine Eltern mehr hatte und das mit seiner Schwester Vicky in Sophienlust lebte. Warum hatte er nicht dort bleiben dürfen? Warum hatte der Onkel ihn in dieses grässliche Haus gebracht, in dem es so still war wie auf einem Friedhof? Hier war nur Claudia nett. Claudia, die ihn gestern so lieb getröstet und ihm Geschichten erzählt hatte. Doch jetzt war sie nicht da. Schade war das. Bei ihr hätte Torsten viel lieber Englisch gelernt.

      Vorsichtig zog Torsten den kleinen Ball aus seiner Hosentasche. Er legte ihn auf den Tisch und drehte ihn mit den Fingern. Die bunte Gummikugel wirbelte im Kreis. Es sah sehr hübsch aus.

      Miss Scott war so eifrig in ihren englischen Text vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, was ihr Schüler tat. Wieder drehte der Kleine seinen bunten Ball. Diesmal wohl etwas zu fest. Denn das Spielzeug sprang vom Tisch und rollte vor die Füße von Miss Scott.

      Strafend sah die strenge Erzieherin auf das Kind. »So hörst du mir also zu!«, grollte sie. Steif bückte sie sich nach dem bunten Ball und hob ihn mit zwei Fingern auf. »Es ist selbstverständlich, dass dieses Ding konfisziert wird.«

      Torsten hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Er sollte es aber gleich erfahren. Miss Scott erhob sich würdevoll und schritt zu dem hohen Wandregal. Die Engländerin hatte eine beachtliche Größe und erreichte das oberste Bord deshalb, ohne einen Stuhl benutzen zu müssen. Mühelos nahm sie eine Glasschale herunter,


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