Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Köpfe baumelten bei jedem Schritt der Reittiere hin und her.
»Alles nur Schau, was Sie hier abziehen«, schimpfte Johannes Ertel aufgebracht. »Man dürfte Ihnen keine Kinder anvertrauen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie mein Bruder ausgerechnet auf dieses Heim kam. Na ja, er hatte nie ein Gefühl für die Wirklichkeit.«
»Ich verstehe das selbst nicht«, murmelte Denise erschrocken. Am liebsten wäre sie sofort hinausgelaufen, um ihre Schützlinge in Empfang zu nehmen. Doch sie wusste, dass der Fabrikant sie dann begleitet hätte. Es war jedoch nicht nötig, dass er diese schmutzigen Kinder auch noch aus der Nähe sah.
»Hier werden die Kinder nicht nur vernachlässigt, hier kümmert man sich offensichtlich wochenlang überhaupt nicht um sie, sonst könnten sie nicht so verkommen aussehen. Ich bin schwer enttäuscht, Frau von Schoenecker, und ich werde dafür sorgen, dass Tanja so rasch wie möglich anderweitig untergebracht wird. Ich werde aber auch beim Jugendamt melden, welch unglaubliche Zustände hier herrschen. Sie sprechen davon, dass die Kinder bei Ihnen ein neues Zuhause finden. Wenn Sie mich fragen, dann ist das, was Sie Ihren Schützlingen bieten, ein Zigeunerleben. Sie machen nur große Worte und glauben, dass es damit getan ist!«
»Kinder spielen alle gern im Schmutz. Unsere vier haben heute übertrieben, das sehe ich ein. Trotzdem darf man nicht verallgemeinern. Wenn Sie sich unsere anderen Buben und Mädchen ansehen, werden Sie feststellen, dass alle tadellos gepflegt und sauber sind.«
»Phrasen, nichts als Phrasen«, polterte Johannes Ertel. »Was ich gesehen habe, genügt mir völlig. Es scheint mir an der Zeit zu sein, dass diese Misswirtschaft hier aufgelöst wird.«
Denise von Schoenecker gab dem Mann, der sie so schwer beschuldigte, einfach keine Antwort mehr, sondern klingelte nach dem Hausmädchen.
»Bitte, waschen Sie Tanja und Torsten und bringen Sie die beiden dann hierher«, wandte sie sich an die junge Helferin.
Johannes Ertel hob gebieterisch die Hand. »Sparen Sie sich die Mühe«, brüllte er. »Was seit mindestens einer Woche versäumt wurde, braucht jetzt nicht nachgeholt zu werden. Bringen Sie den Jungen zu meinem Wagen. Wohin das Mädchen gebracht werden soll, teile ich Ihnen in den nächsten Tagen mit.« Der letzte Satz war für Denise von Schoenecker bestimmt. »Im Übrigen dürfen Sie froh sein, wenn man Ihnen nicht eine Klage wegen Verletzung der Aufsichtspflicht anhängt.« Damit verließ Johannes Ertel mit langen Schritten das Biedermeierzimmer.
Torsten hatte seinen Onkel nie gesehen, deshalb trat er dem dicken, etwas untersetzten Mann in der Halle völlig unbefangen entgegen.
»Hol deine Sachen, wir fahren weg«, sagte der Fabrikant und achtete kaum darauf, dass er seinem unglaublich schmutzigen Neffen nicht zu nahe kam.
»Wohin?« Noch saß Torsten das Erlebnis in dem finsteren Gang so sehr in den Knochen, dass er ganz anders reagierte als sonst. Dazu kam sein schlechtes Gewissen. Hatte jemand bemerkt, dass sie ohne Erlaubnis zur Baugrube geritten waren?
»Nach Hause!«
»Zu Vati und Mami?«
»Es wird dir gefallen«, wich Johannes Ertel aus.
»Kommt Tanja auch mit?«
»Heute nicht. Wir Männer wollen einmal ganz unter uns sein.«
Das breite Gesicht des Fabrikanten verzog sich zu einem Grinsen.
Torsten blieb ernst und ängstlich.
Da kam auch schon das Hausmädchen und führte die Kinder in den Waschraum. Erst jetzt fiel diesem auf, wie unglaublich schmutzig sie aussahen.
Denise von Schoenecker hatte nur wenige Minuten gebraucht, um ihre Empörung über die ungerechtfertigten Vorwürfe Johannes Ertels niederzukämpfen. Die Interessen ihrer Schützlinge waren ihr wichtiger als ihr persönliches Prestige.
»Da Sie die entsprechende Legitimation haben, kann ich natürlich nicht verhindern, dass Sie Torsten mitnehmen. Doch ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen, wie schmerzlich die Trennung für die beiden Kinder sein wird.«
Johannes Ertel stand in der geräumigen Halle und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Vielleicht wird Torsten die unglaublichen Freiheiten, die er hier genießt, vermissen, doch es wird auf jeden Fall ein Vorteil für ihn sein. In meinem Haus wird er von einer geschulten Betreuerin überwacht werden und keine Möglichkeit haben, im Schlamm zu spielen.«
»Wie wäre es, wenn Sie probeweise doch beide Kinder mitnehmen würden? Sie werden sehen, dass es dann viel weniger Schwierigkeiten geben wird.« Denise von Schoenecker ließ nicht locker.
»Sparen Sie sich Ihre guten Ratschläge«, fauchte der Mann. »Da es Ihnen nicht gelingt, hier Ordnung zu halten, sollten Sie sich nicht auch noch in fremde Angelegenheiten einmischen. Ah, da kommt ja Torsten. Nun sieht er schon etwas manierlicher aus. Bitte, lassen Sie sein Gepäck zu meinem Wagen bringen.« Der Fabrikant legte seine schwere Hand auf die Schulter des Jungen und schob ihn vorwärts.
Torsten, der gar nicht richtig wusste, was mit ihm geschah, ließ sich alles gefallen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er sich erbittert dagegen gewehrt, von Tanja getrennt zu werden. Jetzt war er so durcheinander, dass er fast froh war, auf diese Weise dem gewiss gleich losbrechenden Strafgericht zu entgehen. Er ahnte ja nicht, dass die Absicht bestand, ihn für immer von der Schwester zu trennen.
Auch Tanja wusste das nicht. Mit noch feuchten Haaren stand sie barfuß in der Halle und wagte gar nicht den Wunsch zu äußern, ebenfalls mitgenommen zu werden. Mit großen Augen sah sie zu, wie Johannes Ertel ihren Bruder durchs Portal dirigierte.
Torsten ließ sich gehorsam in den großen schweren Wagen schieben und wagte keine Frage. Krampfhaft überlegte er, ob dies wohl die Strafe für ihren Ungehorsam war. Wusste auch dieser dicke Mann, dass sie in dem alten Gang gewesen waren?
Misstrauisch sah Torsten zu, wie sein Köfferchen im Gepäckraum verstaut wurde und wie sich Johannes Ertel hinter das Steuer klemmte. Jetzt heulte der Motor auf, der Wagen schoss davon.
Torsten kauerte sich im Fond des Wagens zusammen. Er war zu müde, um über die Zusammenhänge nachdenken zu können. Vor Erschöpfung fielen ihm die Augen zu. Immer mehr rutschte er zur Seite.
»Na also«, murmelte Johannes Ertel, der das Kind im Rückspiegel beobachtet hatte, zufrieden. Es hatte kein Geschrei und keine Tränen gegeben, also würde sich auch alles einspielen. Claudia würde staunen, wie gut er mit kleinen Kindern umgehen konnte.
*
Nick brauchte lange, bis er wieder annähernd sauber war. Obwohl er seine Finger gut zehn Minuten lang unter heißem Wasser mit Seife und Bürste geschrubbt hatte, waren sie noch immer dunkel.
Erst nachdem er sich umgezogen und sorgfältig gekämmt hatte, wagte er sich ins Biedermeierzimmer zu seiner Mutti.
»Ich will mich bei dir entschuldigen«, murmelte er zerknirscht.
»Dazu hast du allen Grund«, antwortete Denise verärgert. Sie hatte viel Verständnis für Kinder und sah über gelegentliche Pannen gern hinweg. Doch das, was an diesem Tag passiert war, konnte unter Umständen noch eine Menge Ärger nach sich ziehen.
»Es tut mir leid, dass wir so schmutzig nach Hause gekommen sind«, sagte Nick. Er hätte dabei am liebsten die Arme um den Hals seiner Mutti gelegt.
»Schmutzig? Ihr habt ausgesehen wie kleine …« Denise sprach den wenig schmeichelhaften Vergleich nicht aus. »Eigentlich solltest du dich schämen. Ich hätte gedacht, dass man in deinem Alter nicht mehr so kindisch ist.« Denise war richtig böse auf ihren Ältesten.
»Ich schäme mich ja, Mutti. Furchtbar sogar. Vor allen Dingen, weil ich so dumm war.« Nick ließ den Kopf hängen. »Ich hätte wissen müssen, dass der Gang zusammenstürzen kann.«
Denise achtete nicht auf den letzten Satz. »Du hättest vor allen Dingen wissen müssen, dass du mir durch dein Verhalten Unannehmlichkeiten bereitest. Herr Ertel will sich auf dem Jugendamt beschweren. Da er ein reicher, angesehener Mann ist, wird man seine Aussage nicht übergehen. Wir werden mit strengen