Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
feuchte Erde. Seine Rechte hielt die Stablampe, mit der Linken kratzte er im Lehm.
Tanja tat es ihrem Bruder gleich. Mit erdverschmierten Händchen wischte sie sich von Zeit zu Zeit die Tränen ab oder strich eine blonde Haarsträhne, die ihr immer wieder ins Gesicht fiel, zurück.
In seiner Hosentasche hatte Torsten einen kleinen Schraubenzieher gefunden. Damit kratzte er eifrig. Plötzlich stieß er auf etwas Hartes.
»Da ist ein großer Stein«, jammerte er und sah bittend zu Nick hinüber. Doch der große Junge war viel zu beschäftigt, um auf die Klagen der Jüngeren zu hören.
Nick und Pünktchen hatten bereits ein Loch gebuddelt, das etwa fünfzig Zentimeter tief war. Rasch und ohne Pause arbeiteten sie beide weiter, denn sie befürchteten, dass alles wieder zusammenbrechen könnte.
Torsten kratzte weiter an seinem Stein. Ein spitzes Eck wurde sichtbar. Wenn er darauf schlug, klang es hohl und metallisch.
»Das ist gar kein Stein«, wisperte Tanja und half nun dem Bruder. Gemeinsam scharrten die beiden die Erde um ihren Fund weg. Dabei waren sie so eifrig bei der Sache, dass sie gar nicht merkten, dass das Licht der Taschenlampe immer schwächer und schwächer wurde.
»Da ist ein Kasten. Nick, ein Kasten!«
In diesem Augenblick waren die Batterien verbraucht, das nur noch zitternde Lichtchen verlöschte.
Nick drehte sich unwillig um. »Warum machst du das Licht aus?«
»Ich kann nichts dafür, es geht nicht mehr.« Torsten schob den Schalter der Stablampe hin und her.
»Die Batterien sind leer. Auch das noch!« Am liebsten hätte Nick die Taschenlampe gegen die Wand geworfen. Doch gerade noch rechtzeitig dachte er daran, dass dies eine neue Erdbewegung hervorrufen konnte.
»Wird es jetzt nie mehr hell?«, fragte Tanja weinerlich.
»Sobald wir draußen sind, wird es auch wieder hell.« Pünktchen hörte nicht auf zu graben. Ihre Finger schmerzten, ihre Nägel waren längst abgebrochen. Trotzdem arbeitete sie unermüdlich.
»Und wann sind wir draußen?« In panischer Angst schlug Tanja die Hände vor das Gesicht und weinte laut.
»Kannst du mir nicht helfen? Der Kasten ist so schwer.« Torsten riss und zerrte, doch er konnte seinen Fund keinen Zentimeter bewegen.
Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre Nick von dieser Entdeckung begeistert gewesen. Doch jetzt hatte er kaum Interesse daran. Das Problem, lebend aus dem dunklen Gang zu kommen war für ihn viel größer als jeder Forschungsdrang.
»Eine Kassette«, stellte er durch Betasten fest und drückte den verrosteten Kasten aus seiner ursprünglichen Lage heraus.
»Glaubst du, dass ein Schatz darin ist?«, piepste Torsten.
»Weiß nicht. Das werden wir später feststellen.« Nick war schon wieder bei dem Loch. Er legte sich flach auf den Bauch, um möglichst tief graben zu können. Mit aller Kraft fassten seine Hände ins Erdreich, rissen kleinere Steine heraus und förderten Lehmbrocken aus der Masse.
Pünktchen schaffte das lose Erdreich weg. Ihre Kleider waren durchnässt, teils vom Schweiß, teils von dem Wasser, das aus der Erddecke tropfte.
Nick keuchte vor Anstrengung. Wir müssen hier herauskommen, sagte er sich immer wieder. Wir müssen! Mit zusammengebissenen Zähnen schuftete er weiter. Längst bluteten und brannten seine Hände, doch darauf achtete er nicht. Er wusste, dass es in diesen Minuten ums nackte Leben ging. Um seines und um das der Kameraden. Auf keinen Fall wollte er, dass Pünktchen und den Kameraden durch seine Schuld ein Leid geschah.
Der tapfere Junge verdoppelte seine Anstrengungen, kroch auf dem Bauch immer tiefer in das enge Loch hinein. Keine Sekunde dachte er daran, wie groß die Gefahr war, in die er sich begab.
Mit aller Kraft bohrte er jetzt seine Hände in die feuchte Erde, stemmte sich dagegen, um sie auf die Gegenseite hinauszudrücken. Es war nur ein Versuch, denn er hatte keine Ahnung, wie breit die Erdmauer war, die ihnen den Rückweg versperrte. Gut einen Meter tief hatten sie sich inzwischen vorgearbeitet. Mussten sie sich durch einen weiteren Meter feste Erde und Lehm hindurchbohren? Vielleicht sogar durch mehr?
Nick änderte seine Taktik. Er kroch mit den Füßen voran ins Loch und trat mit seinen Schuhen gegen die Erde. Bildete er es sich nur ein, oder gab die Erde tatsächlich nach? Nicks Herz klopfte rascher. Noch einmal stemmte er sich dagegen, noch einmal bot er all seine Kräfte auf. Nass klebte sein Hemd am Rücken. Seine Augen waren voll Sand und schmerzten. Doch das alles war in diesen Minuten ganz nebensächlich.
Jetzt stieß Nick mit dem Schuh ins Leere. Sofort vergrößerte er die Öffnung vorsichtig und schob auch den anderen Fuß nach. Für einen Augenblick schloss er glücklich die Augen. Er hatte es geschafft. Der Weg zurück in den Gang war frei.
Nick fühlte eine unsagbare Dankbarkeit und Freude in sich. Eine Freude, wie er sie noch nie empfunden hatte. Er rutschte so weit wie möglich vor, zwängte sich durch die enge Öffnung und verbreiterte sie mit seinem Körper.
»Gott sei Dank!«, flüsterte Pünktchen und atmete erleichtert auf.
»Kommt nach. Rasch, ehe alles wieder in sich zusammenbricht!«, zischte Nick aufgeregt. Er war jetzt auf der anderen Seite des Durchbruchs und streckte seinen Arm in das niedrige Loch, um den Kameraden behilflich zu sein.
Pünktchen schob Tanja vor die Öffnung. »Leg dich flach und krabble wie eine Ameise!«, befahl sie leise.
Tanja gehorchte zitternd. Sie versuchte, sich mit Händen und Füßen vorzuschieben, doch sie war zu schwach, um auf die Gegenseite zu gelangen. Nick musste nachhelfen.
Dann kam Torsten an die Reihe. Er schob den Kasten, den er gefunden hatte, vor sich her. Zum Schluss krabbelte Pünktchen zitternd durch die enge Öffnung. Sie war so erschöpft, dass sie nicht mehr auf den Füßen stehen konnte.
Nick stützte sie. »Du hast dich großartig gehalten«, lobte er, selbst von der Anstrengung und der Aufregung müde. »Ohne dich hätte ich es nicht geschafft. Komm, jetzt tasten wir uns an den Wänden entlang ins Freie.«
Diesmal gingen Tanja und Torsten voran. Der Wunsch, ins Freie zu kommen, war stärker als alle Angst. Er trieb die Kleinen unaufhaltsam vorwärts. Noch rascher strebten sie dem Ausgang zu, als in einiger Entfernung ein schwacher Lichtschein zu erkennen war, der heller und heller wurde.
Die letzten Meter rannten die Kinder. Aufatmend stürzten sie ins Freie. Gerettet! Die Freude darüber gab ihnen neue Kraft. Sie schleppten sich die Zufahrt hoch, erreichten die Ponys.
Erschöpft umarmte Torsten sein Reittier. »So etwas tu ich nie wieder«, stöhnte er.
»Ich auch nicht«, stimmte Nick ihm zu. Achtlos ließ er das Kästchen, das Torsten im Gang vergessen hatte, ins Gras fallen. Er säuberte seine Armbanduhr notdürftig vom Dreck und stellte fest, dass es höchste Zeit war, nach Sophienlust zurückzukehren.
Voll Bewunderung sah Pünktchen zu, wie Nick die kleine Tanja in den Sattel hob und selbst den Zügel des gutmütigen Ponys ergriff. Sie wusste, Nick hatte ihnen das Leben gerettet. Das würde sie nie vergessen.
*
Pausenlos hatte Johannes Ertel voll Ungeduld gegen die Fensterscheiben getrommelt. Jetzt erstarrte er in der Bewegung.
»Da kommen Kinder mit zwei Ponys. Sind sie das?«, fragte er.
»Bestimmt. Ponys gibt es in dieser Gegend nur bei uns.« Denise erhob sich, um neben ihrem Besucher ans Fenster zu treten.
»Das nenne ich eine Überraschung«, polterte der Fabrikant. »Ein Kinderheim wollen Sie sein? Das ist doch ein Witz! So schmutzig werden Kinder ja nicht einmal in einer Kohlengrube. Ein feines Haus sind Sie!«
Denise von Schoenecker biss sich auf die Lippen. War das möglich? Die Kinder, die eben mit den Ponys zu den Ställen gingen, waren so unglaublich schmutzig, als habe man sie aus einem Sumpf gezogen. Verkommen und elend sahen sie aus. Arme und Beine waren zerschunden,