Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
was dieses arme Kind alles würde entbehren müssen. Es würde sich wie ein Erwachsener zu betragen haben, würde genauso leben müssen. Armer kleiner Torsten! Er würde nicht nur auf die Gesellschaft der Schwester verzichten müssen, sondern auf alles, was Kindern Freude machte.
*
Die riesige Baugrube lag einsam und verlassen. Diesmal band Nick die beiden Ponys mit einem langen Strick an einem Baum fest. Dann nahm er Torsten an die Hand und lief mit ihm zu der breiten Spur, die schräg abwärts führte und die von den Raupenfahrzeugen zum Ein- und Ausfahren benutzt wurde.
Pünktchen und Tanja folgten den beiden. Da Frau Rennert mit den Vorbereitungen für eine Geburtstagsfeier beschäftigt war, hatte sie die Erlaubnis zum Ausritt erteilt, ohne viele Fragen zu stellen. Nick und Pünktchen waren froh darüber gewesen. So hatten sie nicht zu lügen brauchen. In ein bis zwei Stunden würden sie wieder zurück sein, und keinem würde auffallen, dass sie einen kleinen Abstecher zu dem alten Gang gemacht hatten.
Immer rascher liefen die Kinder. Erst unmittelbar vor dem Eingang zu dem alten Geheimgang blieben sie stehen.
Pünktchen sah sich furchtsam um. »Hoffentlich ist außer uns niemand hier«, flüsterte sie.
»Siehst du jemanden?«, fragte Nick zurück.
»Vielleicht ist jemand in dem finsteren Gang«, piepste Tanja und schmiegte sich ängstlich dichter an ihre Begleiterin.
»Wer soll denn da sein? Aber wenn ihr beide Angst habt, dann bleibt ruhig hier. Wir gehen allein, nicht wahr, Torsten?« Nick tat bereits den ersten Schritt.
»Wir haben keine Angst«, versicherte der Siebenjährige nicht ganz glaubhaft. Auch ihm war das geplante Unternehmen plötzlich unheimlich.
»Wir kommen mit!« Pünktchen drückte fest und beruhigend Tanjas Hand.
Vorsichtig stapften die beiden Mädchen hinter den Buben her. Schon nach wenigen Metern wurde es düster. Es roch dumpf und modrig. Zwischen den morschen Stützbalken rieselte Sand und Erde herab.
Nick knipste die mitgebrachte Taschenlampe an. Er war der Einzige, der keinerlei Furcht empfand. Dazu war seine Neugierde auf das, was sie entdecken würden, viel zu groß. In seinem Eifer drang er immer tiefer in den Gang ein, ging immer rascher.
Es war feucht. Tanja zog fröstelnd die Strickweste enger um ihren Oberkörper. Manchmal stolperte sie und wäre wohl schon mehrmals hingefallen, wenn Pünktchen sie nicht jedes Mal gehalten hätte.
Eine Fledermaus flatterte hilflos ins Licht, um dann flink in einem Erdloch zu verschwinden.
Tanja stieß einen hohen, spitzen Schrei aus. »Puh, ist das grausig«, jammerte sie.
Torsten hätte gern in die Klage eingestimmt, doch er wollte sich auf keinen Fall blamieren.
»Wollt ihr ein Abenteuer erleben oder nicht? Wer keinen Mut hat, geht einfach zurück. Immer an der Wand entlang.« Nick leuchtete sorgfältig die Wände des dunklen Ganges ab. Sie bestanden aus brüchig gewordenen Sandsteinen, die einfach ins Erdreich getrieben worden waren. An vielen Stellen war diese behelfsmäßig errichtete Mauer zusammengebrochen.
Keines der Kinder hätte zugegeben, keinen Mut zu besitzen. Nicks Eifer steckte sie alle an. Deshalb trippelten sie vorsichtig hinter ihm her, stiegen über heruntergebrochene Steine und krochen durch enge Öffnungen. Immer modriger wurde die Luft, immer schwerer fiel das Atmen.
Keuchend blieben Tanja und Pünktchen jetzt stehen. »Wie weit sind wir schon gegangen?«, erkundigte sich das größere Mädchen leise.
»Mindestens zwanzig Meter«, prahlte Nick stolz.
»Und wie weit gehen wir noch?« Pünktchen war ein Kamerad, dem nie etwas zu viel wurde. Doch diesmal ging es nicht nur um Nick und sie, diesmal waren sie für die Ertel-Geschwister verantwortlich. Und Tanja zitterte neben ihr ganz beachtlich.
»Ich weiß es noch nicht. Es kommt ganz darauf an, wie weit der Gang erhalten ist. Vielleicht einige hundert Meter, vielleicht auch bis in die Nähe des Dorfes.«
»So weit?« Pünktchen schluckte. Schützend legte sie den Arm um Tanjas bebende Schultern.
»Wenn wir das den Leuten vom Maibacher Tagblatt erzählen, gibt es eine richtige Sensation.« Nick war in seinem Element. Verborgene Dinge aufzustöbern, die seit Hunderten von Jahren unter der Erde lagen, begeisterten ihn.
»Aber dann erfährt deine Mutti davon und Frau Rennert auch«, gab Pünktchen zu bedenken.
»Hm«, machte Nick kleinlaut. Dass er ohne Erlaubnis hier heruntergestiegen war, bedrückte ihn mehr, als er zugeben wollte.
Tanja hielt sich stets dicht bei Pünktchen und klammerte sich beim geringsten Laut angstvoll an sie. Torsten dagegen marschierte tapfer hinter Nick. Ein bisschen war er vom Jagdfieber des großen Jungen angesteckt.
In gebückter Haltung tappten die Kinder weiter. Manchmal wurde der Gang so niedrig, dass sie nur noch in der Hocke weiterkamen. Ganze Berge von herabgefallener Erde bedeckten den Boden. Wenn Nick geglaubt hatte, dass der Gang besser werden würde, je tiefer sie eindringen würden, so wurde er enttäuscht. Es wurde nur zunehmend feuchter. Manchmal standen tiefe Pfützen in dem engen Gang.
»Ich glaube, wir sollten wieder umkehren«, schlug Pünktchen vor und bemühte sich vergeblich, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. Auf keinen Fall sollte Nick merken, dass auch sie Angst hatte. Angst vor der Dunkelheit, Angst vor der feuchten lehmigen Erde, die jeden Augenblick über ihnen zusammenbrechen konnte.
In diesem Augenblick war Nick bereit, der Bitte des Mädchens nachzugeben. Auch ihm wurde die Sache nach jedem Meter, den sie weiter vordrangen, unheimlicher. Ganz deutlich spürte auch er die Gefahr, in der sie schwebten. Doch dann erfasste der Lichtstrahl der Taschenlampe eine deutliche Erweiterung des Ganges. Eine Art Kammer lag vor ihnen. Ein kleiner Raum, in dem man aufrecht stehen konnte.
»Seht mal, da ist ein Kreuz!« Nick bekam vor lauter Aufregung ganz heiße Ohren.
»Vielleicht war das früher einmal eine Kapelle unter der Erde. Hier konnten die Mönche beten, und niemand wusste, wo sie waren.« Pünktchen machte kugelrunde Augen.
Auf Tanja und Torsten machte die Entdeckung weniger Eindruck. Stumm und frierend standen sie neben den Großen.
»Ich möchte zu gern wissen, ob diese Katakombe je benutzt worden ist.«
»Was ist eine Katabombe?« Auch Torsten drängte sich jetzt ängstlich an Pünktchen. Mit beiden Händen umklammerte er ihren Arm.
Noch bevor Nick den Kleinen korrigieren konnte, noch bevor er den Begriff zu erklären vermochte, rauschte es gewaltig über ihnen. Instinktiv zogen die Kinder den Kopf zwischen die Schultern und schützten ihr Gesicht mit den Armen. Mit dumpfem Dröhnen brachen die Erdmassen vor der kleinen Kammer in sich zusammen.
Die Kinder verhielten sich ganz still. Noch einige Sekunden lang hörte man das Klatschen von Lehmbrocken und das Prasseln der Steine, dann war es so still wie zuvor.
»Der Gang«, murmelte Pünktchen totenbleich, »der Gang ist zugeschüttet.«
Nick wurde schlagartig klar, was geschehen war. Sie waren lebendig begraben! Tief unter der Erde waren sie gefangen. Niemand würde es hören, wenn sie um Hilfe riefen. Niemand würde kommen, um nach ihnen zu suchen, da niemand etwas von diesem gefährlichen Ausflug ahnte.
Zögernd ließ er den Lichtkegel zu der Stelle gleiten, an der noch vor einer Minute der dunkle Gang gewesen war. Er existierte nicht mehr. An seiner Stelle war jetzt eine helle Wand aus frischem Lehm und Erde. Nick durfte gar nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn sie sich gerade in diesem Augenblick dort drüben aufgehalten hätten. Ein eisiger Schauer jagte dabei über seinen Rücken.
Zögernd leuchtete Nick die feuchten Wände ab. Gab es denn nicht noch einen zweiten Ausgang?
»Was tun wir jetzt?«, flüsterte Pünktchen. Sie hatte schon manche gefährliche Situation mit Nick erlebt, doch so ernst wie jetzt war die Lage noch nie gewesen.
*