Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
ablegen, nie mehr so leichtsinnig zu handeln.
»Es interessiert mich auch nicht.« Denise zog einen Bogen Papier aus dem Schreibtisch, tat Durchschläge dahinter und spannte alles in die kleine Reiseschreibmaschine ein.
»Mutti, ich tu so etwas nie wieder«, jammerte Nick, der sich nicht erinnern konnte, von seiner Mutti jemals so interesselos behandelt worden zu sein.
»Ich glaube, diesen Satz habe ich schon einmal gehört.« Denise wandte sich ihrer Arbeit zu. Es war nicht allein Nicks Leichtsinn, der sie so erboste. Sie war auch ärgerlich auf sich selbst. Ärgerlich, weil sie bei Johannes Ertel nichts erreicht hatte, weil sie nicht hatte verhindern können, dass man die Ertel-Kinder herzlos getrennt hatte.
»Mutti, aber diesmal ist es ganz ernst. Bitte, lass dir doch erzählen, wie alles gekommen ist«, bettelte Nick.
»Ich habe leider keine Zeit!«
Dies war ein Satz, den Nick noch nie zuvor von seiner Mutti gehört hatte. »Bist du so böse mit mir?«, fragte er zerknirscht.
»Du hast ganz Sophienlust blamiert.« Denise sah stur auf das Blatt in der Schreibmaschine.
»Es tut mir so leid, Mutti.« Nick ließ den Kopf hängen. Sein Bedauern war echt. »Ich habe dich bestimmt nicht verärgern wollen.«
»Ich habe zu arbeiten.« Denise begann einen Brief zu schreiben. Niemals hätte sie zugegeben, dass diese Arbeit ebenso gut von Frau Rennert hätte erledigt werden können.
Nick wusste, dass er entlassen war. Traurig schlich er in die Halle. Dort wartete Pünktchen auf ihn.
»Was hat sie gesagt?«, flüsterte das Mädchen sofort. Es hatte sich umgezogen und sah wieder frisch und rosig aus.
Bekümmert winkte Nick ab. »Sie ist böse und spricht nicht mit mir.«
»Gar nicht?«, fragte Pünktchen erschrocken. So etwas war noch nie vorgekommen.
»Gar nicht. Sie wollte nicht einmal wissen, wo wir waren.« Nick seufzte.
Pünktchen zog ihren Freund zum hinteren Ausgang. »Und was machen wir jetzt mit dem Kästchen, das wir gefunden haben?«, erkundigte sie sich leise.
Nick schlenderte neben dem blonden Mädchen über den Weg vor dem schlossartigen Gebäude und setzte sich auf das niedrige Mäuerchen unter der Rotbuche. Traurig stützte er den Kopf in die Hände.
»Das Kästchen gehört Torsten. Er hat es gefunden.« Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Nick für diesen Fund brennendes Interesse gezeigt. Doch jetzt war er ihm völlig gleichgültig.
»Torsten ist aber nicht mehr da.«
»Wieso?«
»Weil sein Onkel ihn mitgenommen hat.« Pünktchen setzte sich ebenfalls auf das Mäuerchen, zog die Beine an und legte die Arme darum.
»Für wie lange?«
»Für immer.«
»Und Tanja bleibt hier?« Verständnislos schüttelte Nick den Kopf.
»Ja. Vorerst noch. Schwester Regine erklärt ihr das alles gerade. Der Onkel will sie in ein anderes Heim geben, weil hier keine Ordnung herrschte, wie er sagt.«
»Und daran sind wir schuld«, seufzte Nick. »Ich kann Mutti verstehen. Sie gibt sich so viel Mühe. Sie arbeitet, plant und rechnet, und wir verderben alles wieder.«
»Wir müssten Herrn Ertel sagen, wie alles gekommen ist.«
»Er würde uns überhaupt nicht zuhören.«
»Und was können wir jetzt tun? Was soll aus dem Kästchen werden?«
»Was ist denn überhaupt drin?« Nick stieß mit der Schuhspitze kleine Steinchen weg. Bekümmert dachte er daran, dass seine Mutti noch viel ärgerlicher werden würde, wenn sie erfahren würde, was wirklich geschehen war. Wenn sie hören würde, dass er durch seinen Leichtsinn drei Kinder in Gefahr gebracht hatte. Was nützte es, dass er seinen Übereifer jetzt bitter bereute? Er konnte damit nichts ungeschehen machen.
»Keine Ahnung. Das Kästchen ist ja zu.«
»Haben wir denn keinen Schlüssel?« Erst jetzt befasste sich der Junge mit der Kassette, die er im Augenblick höchster Not überhaupt nicht beachtet hatte.
Pünktchen zog die Schultern hoch und sah Nick fragend an.
»Wahrscheinlich gab es gar keinen Schlüssel. Oder wir haben ihn in der Dunkelheit verloren. Vielleicht lässt sich das Kästchen aber auch so öffnen.« Der Junge sprang auf und lief quer über den Rasen zu den Ställen hinüber. Dort stand die Kassette im Vorraum noch auf demselben Platz. Sie war erdverschmiert, rostig und unansehnlich.
»Wie alt mag sie wohl sein?« Pünktchen, die nachgekommen war, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute Nick über die Schulter.
»Das kann man ganz genau feststellen.«
»Glaubst du, dass ein Schatz darin ist?« In Gedanken sah das Mädchen Gold und Edelsteine vor sich.
»Wenn etwas drin ist, dürfen wir es nicht behalten.«
Der Junge begutachtete die kleine Truhe von allen Seiten. Sie war schmucklos und auch nicht besonders schwer.
»Aber wir haben es doch gefunden.« Pünktchen war ein wenig enttäuscht.
»Überhaupt waren Mönche früher arm. Woher sollten sie Gold und Edelsteine nehmen?«
»Vielleicht hat das Kästchen gar nicht den Mönchen gehört, sondern einem reichen Prinzen.«
Nick grinste überlegen. »Du liest zu viele Märchen. In Bachenau gab es keine Prinzen.«
»Du bist gemein!« Pünktchen zog einen Schmollmund.
»Wir werden ja sehen.«
»Vielleicht können wir mit alten Schlüsseln probieren.«
»Ich weiß nicht … Vielleicht ist es doch besser, wenn wir zuerst jemanden um Rat fragen.« Nick stellte die Kassette an ihren Platz zurück. »Aber sag den anderen Kindern vorerst nichts davon.«
Pünktchen nickte mehrmals. »Ehrenwort!«, raunte sie.
Draußen wurden helle Kinderstimmen laut. »Wo seid ihr denn? Wir haben euch schon überall gesucht.« Henrik, Nicks jüngster Halbbruder, stürmte in den Vorraum. Seine dicken Bäckchen waren vom raschen Laufen hochrot, sein Atem ging pfeifend.
»Ach, wir haben nur die Ponys besucht«, tat Nick gleichgültig und gab der kleinen Truhe mit dem Fuß einen Stoß, sodass sie unter’s Heu rutschte.
»Wir spielen Räuber und Gendarm und brauchen noch zwei Leute. Kommt ihr mit?« Henrik hüpfte ungeduldig auf und ab.
»Hab keine Lust«, meinte Nick wahrheitsgemäß.
»Aber du darfst Oberkommissar sein«, drängte Henrik, der sich die Ablehnung seines Bruders nicht erklären konnte. Gewöhnlich machte es Nick viel Spaß, mit den Kindern von Sophienlust herumzutollen.
»Trotzdem nicht.« Nick ließ die Kinder einfach stehen.
»Aber du kommst mit uns?« Henrik und Fabian zerrten an Pünktchens Händen, und das gutmütige Mädchen ließ sich mitziehen.
*
Torsten erwachte erst, als Johannes Ertel den schweren Wagen vor der Garage einer luxuriösen Villa anhielt. Ein bisschen verschlafen sah sich der Junge um. Da gab es weite, sehr gepflegte Rasenflächen, riesige Beete mit Rosen, die noch immer verschwenderisch blühten. Zierbecken, aus deren Mitte eine glitzernde Wasserfontäne emporschoss, und Pfauen, die geziert über die hellen Plattenwege spazierten.
»Wo sind wir?«, erkundigte sich der Junge schüchtern.
»Zu Hause. Gleich stelle ich dir deine Erzieherin vor.« Der Fabrikant strahlte. Er war äußerst zufrieden, dass er endlich einen Sohn hatte. So, wie Torsten sich anließ, schien es überhaupt keine Schwierigkeiten