Sophienlust Paket 4 – Familienroman. Patricia Vandenberg
»Drüben bei Bachenau wird ein Sanatorium gebaut.«
»Davon habe ich gehört.«
»Als man die Baugrube ausschachtete, entdeckte man einen alten Gang, der vermutlich früher zum Kloster gehörte.«
»Interessant.« Alexander fuhr sich über die Stirn.
»Er ist teilweise noch tadellos erhalten.«
»Man hat doch sicher einen Archäologen benachrichtigt, um Herkunft und Beschaffenheit des Ganges zu erforschen.«
»Eben nicht. Die Leute vom Bau interessiert der Geheimgang nicht. Sie wollen möglichst rasch mit dem Fundament beginnen und haben ihre Entdeckung deshalb nicht gemeldet. Sie befürchten, dass sich eine Verzögerung beim Bau ergeben könnte, wenn Nachforschungen angestellt werden.«
»Man müsste den Denkmalschutz benachrichtigen.«
Nick stieß hart die Luft aus. »Das dauert alles viel zu lange. Bis von dort jemand kommt, existiert der Gang gar nicht mehr. Er wird eingeebnet, hat der Ingenieur gesagt.«
»Hast du denn mit ihm gesprochen?«
»Ja. Er hat gesagt, dass für den alten Gang Einsturzgefahr bestünde. Aber ich hab es einfach nicht geglaubt. Der Gang sah so stabil aus. Und deshalb …, deshalb …«
Alexander von Schoenecker ahnte, was geschehen war. Doch er konnte Nick nicht böse sein. War der Forschungsdrang für junge Menschen nicht etwas ganz Natürliches? »Du bist also hinuntergestiegen.« Der Gutsbesitzer verkniff sich ein Lächeln.
»Pünktchen und die Ertel-Geschwister wollten unbedingt mit. Ich weiß, dass ich es nicht hätte erlauben dürfen. Ach, Vati, ich bin dumm, schrecklich dumm. Es war alles nur meine Schuld. Dass der Gang zusammengebrochen ist und dass wir alle so schmutzig geworden sind.«
Jetzt horchte Alexander von Schoenecker auf. Ausführlich ließ er sich berichten, wie sich alles zugetragen hatte.
»Du warst sehr leichtsinnig, Nick«, meinte er danach ernst. »Aber du hast deinen Fehler wiedergutgemacht, indem du Mut und Initiative bewiesen hast. Durch dein intensives Graben wurde großes Unheil vermieden. Ich bin überzeugt, dass du künftig in ähnlicher Situation überlegter handeln wirst. Du hast aus dieser Sache bestimmt eine Menge gelernt.«
Nick hatte fest damit gerechnet, ordentlich ausgeschimpft zu werden. Jetzt war er richtig froh, dass sein Vati nicht böse war.
»Ich werde so etwas nie wieder tun. Das habe ich auch schon Mutti gesagt«, seufzte der Junge voll Erleichterung. »Was machen wir mit dem Kästchen, Vati? Eigentlich gehört es Torsten, weil er es gefunden hat.«
»Wir müssen den Fund melden. Das Kästchen gehört dem Staat. Vielleicht wird man euch eine Prämie dafür bezahlen. Ich werde gleich morgen den Denkmalschutz anrufen. Vielleicht kann man noch weitere Gegenstände aus dem alten Gang bergen – mit entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen natürlich.«
»Willst du die Kassette sehen, Vati? Ich habe sie mitgebracht.« Ein bisschen unsicher sah Nick hoch.
»Wo ist sie denn?«
»Draußen im Schuppen.« Nick war aufgesprungen und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Wir haben aber keinen Schlüssel dazu, Vati. Glaubst du, dass man vielleicht mit einem Dietrich …«
»Das wollen wir lieber den Leuten vom Denkmalschutz überlassen.«
In diesem Augenblick kam Denise zurück. Alexander von Schoenecker ging auf seine Frau zu und zog sie sanft in die Arme.
»Nick möchte mir draußen im Schuppen etwas zeigen. Ich bin bald zurück«, entschuldigte er sich.
»Glaubst du, sie ist mir noch böse?«, fragte der Junge, als er zusammen mit Alexander über den Wirtschaftshof ging.
»Später werde ich mit ihr reden.« Der Gutsherr nickte seinem Stiefsohn zu.
»Wirst du ihr alles sagen?« Nick ließ die Schultern hängen.
»Das muss ich doch. Willst du Geheimnisse vor Mutti haben?«
»Nein.«
»Siehst du, ich auch nicht.« Alexander schmunzelte. Von Anfang an hatte er sich mit seinem Stiefsohn wunderbar verstanden.
»Du musst ihr aber auch sagen, dass es mir leidtut und dass ich so etwas nie mehr machen werde. Versprichst du mir das, Vati?« Es war Nick klar, dass ein Junge in seinem Alter nicht mehr weinte. Trotzdem traten ihm jetzt die Tränen in die Augen. Doch zum Glück war es dunkel, und niemand sah es.
*
Fest lag der Arm des Mannes um die schmalen, fast noch kindlich wirkenden Schultern der jungen Frau. Der Druck seiner Finger verstärkte sich.
»Ich habe einige interessante Typen in den Jachtklub eingeladen. Du kommst doch mit, Claudia?«
»Wann?« Claudia Ertel bemühte sich, etwas Abstand Horst Grebe zu halten. Seine Nähe war ihr unangenehm.
»Heute Abend natürlich.«
»Es tut mir leid, aber das wird schlecht gehen. Heute kommt mein kleiner Cousin, und ich möchte mich ein wenig um ihn kümmern.«
»Du gibst mir einen Korb, um dich mit einem fremden Kind zu befassen?«, fragte Horst spöttisch. »Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Torsten hat vor einigen Tagen durch einen Unfall die Eltern verloren. Ich weiß, wie schlimm das ist. Deshalb möchte ich mich ein bisschen mit ihm befassen.« Flüchtig dachte Claudia an jene Zeit, da ihre Mutter gestorben war. Es waren die traurigsten Monate ihres Lebens gewesen.
»Bei euch gibt es doch sicher jemanden, der sich um den Jungen kümmern kann. Da brauchst doch du nicht selbst …«
»Vater hat eine englische Erzieherin eingestellt. Aber ich glaube, sie ist viel zu streng für einen so kleinen Jungen.«
»Soll denn der Kleine länger bei euch bleiben?«, erkundigte sich Horst interessiert. Ihm passte die ganze Sache überhaupt nicht.
»Vater hat die Absicht, Torsten zu adoptieren. Er soll später einmal das Werk übernehmen.«
Horst Grebe blieb ruckartig stehen. Sein fahles Gesicht überzog sich mit einer hektischen Röte. »Dein Vater will diesen fremden Waisenjungen zu seinem Erben machen?«, keuchte er.
»Torsten ist der Sohn seines Bruders. Also ist er uns nicht fremd.« Claudia verstand die plötzliche Erregung ihres Freundes nicht ganz.
»Das musst du ihm unbedingt ausreden«, erklärte der junge Mann. »Schließlich bist du seine einzige Tochter und hast ein Anrecht auf das Vermögen, und alles, was dazugehört.«
Claudia lächelte amüsiert. »Wenn ich deine Frau werde, habe ich so viel gesellschaftliche Verpflichtungen, dass mir keine Zeit bleiben wird, mich um die Fabrik meines Vaters zu kümmern. Außerdem – was wollen wir mit all dem Geld? Hast du nicht mehr davon, als du je verbrauchen kannst?«
»Ein Unternehmer kann nie reich genug sein. Weißt du das nicht? Je mehr Kapital hinter ihm steht, um so mächtiger ist er. Du musst dafür sorgen, dass dieser Junge wieder aus dem Haus kommt.«
»Vorerst ist Torsten erst sieben Jahre alt und braucht eine Heimat, nichts weiter. Über die finanziellen Belange wird man später entscheiden. Im Übrigen liegt mir nichts an Geld. Ich selbst brauche nur wenig.«
»Du kennst das Leben der großen Dame noch nicht. Aber ich werde es dir zeigen, Claudia. Du wirst einen teuren Sportwagen fahren, wirst Flugreisen um die ganze Welt machen, wirst deine Garderobe bei einem namenhaften Modeschöpfer bestellen.«
Claudia schüttelte lachend den Kopf. »Nein, das werde ich nicht, weil mir diese überspannten Ansprüche keinen Spaß machen. Ich bin mehr für Natürlichkeit.«
Claudia wollte weitergehen. Doch Horst hielt sie auf offener Straße fest.
»Wenn du mich liebst, Claudia, wirst du dafür