Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner
Brita Steinwendtner
Gesicht im blinden Spiegel
Roman
Für W.
Die Drucklegung dieses Buches
wurde gefördert durch die Kulturabteilungen
von Stadt und Land Salzburg.
ISBN 978-3-7013-1279-5
eISBN 978-3-7013-6279-0
© 2020 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Umschlaggestaltung: Leopold Fellinger unter Verwendung eines Bildes von Alexander Steinwendtner
Denn was ist, ist niemals alles.
Christoph Ransmayr
Inhalt
PRÉLUDE EINS
Im Rausch von Trommeln und Trompeten, von Zimbeln, Geigen und Posaunen, von Klarinetten und Kalimba, zieht eine Karawane von Menschen in das Bild. Sie kommt und entschwindet und kommt wieder. Auf gebrochener Leinwand gebrochene Menschen. Oder lachen manche, sind auch glückliche dabei? More Sweetly Play the Dance. William Kentridges Apokalypse der Wiederkehr im Museum der Moderne. Eine Gestalt taucht am rechten Bildrand auf, sie ist in ein langes, weites Gewand gehüllt, der Mann tanzt in wilden Drehungen gegen den Strom, gegen die Erwartung, tanzt und wirbelt über die Bildfläche und verschwindet als Ahnung dessen, was bevorsteht. Die Musik ist Ebbe und Flut und wilder Atem und die Menschen kommen abermals in das Leben oder die Illusion eines Lebens oder in den Tod, more sweetly play the dance, sie gehen, tanzen, stolpern, werden geschlagen und aufgerufen, geführt und verführt, kommen in Gruppen und allein, tragen sich, ein Geschick, eine Schuld, eine Freude. Dann verschwinden sie am rechten Bildrand. Ich warte atemlos, höre die Stille, stehe nicht auf und gehe nicht weg, denn schon kommen sie wieder von links in das Bild, im Taumel der Musik, gefügig und mutig ziehen sie über die gestaffelte Leinwand. Dem Zug der Menschen geht einer voran, immer gleichen langsamen Schritts. Auf ihn warte ich. In seiner Linken hält er einen Stapel von Zetteln, mit der Rechten wirft er den jeweils obersten in einer formvollendeten Bewegung, wie in Zeitlupe, über seine Schulter. Langsam fortschreitend, wirft er unbeirrt in schönem Bogen ein Blatt nach dem anderen hinter sich. Die Blätter taumeln zu Boden und die Nachkommenden gehen über sie hinweg, treten sie in den Staub, gehen achtlos in die Zukunft.
Ich schaue dem Geschehen zu. Dann gehe ich in das Bild, knie nieder, hebe einen Schwung von Blättern auf und gehe damit fort, um vom Schicksal dieses einen einzigen Menschen zu berichten, das darauf verzeichnet ist.
Ihn, diesen Einen, zu retten vor dem Vergessen.
KÖNIGGRÄTZ
I
Kalter Regen fällt auf die Felder nieder.
Sie stehen hoch und reif.
Die Ähren schwer vom Nass, biegsam bergab.
Regengetränkt die Erde.
Matschig die Fuhrstraßen, lehmig die Hohlwege.
Nebelbahnen ziehen her und hin.
Grauer Himmel hockt auf den Hügelkuppen.
Saatkrähen fliegen über die Dörfer.
Die Menschen versperren ihre Häuser.
Sie warten.
Unheil liegt in der Luft.
Wie schön ist das Land in der Sonne gewesen.
Sommerlich noch vor wenigen Tagen und friedlich vor wenigen Wochen. Dem Reifen hingegeben. Die Kornfelder wuchsen in ihr Gelb, der Hafer zitterte im leichten Wind, die Wiesen standen gut für fette Rinderweiden. Sanfte Hügel einer Urlandschaft, von Gletschern geschliffen, fruchtbar und wasserreich, in der Ebene zieht die Elbe westwärts den fernen Häfen zu, dem Meer. Es war ein Wispern und Rascheln, Summen und Zwitschern gewesen, Käfer und Insekten, Schmetterlinge und Vögel nützten die Stunde. Die Sonne eines heißen Juni kam früh und ging spät. An den Wegrändern blühten Kamille, Kornraden und weiße Schafgarben. Die Menschen taten ihr Tagewerk, bereiteten die Ernte vor, schmiedeten das Werkzeug, gingen zur Messe am Sonntag. Kaufleute zogen auf den Hauptstraßen von Ost nach West und von Nord nach Süd und weithin. Der Klang der Mittagsglocken flog über die Hügel, die mit lichten Wäldchen bestanden waren. Wenn die Sonne sank und Kühle aufstieg, ging ein leises Rauschen durch Fichten und Buchen. Lindenblüten fielen sacht zu Boden.
„Böhmisches Paradies“ nennen die Menschen diesen Flecken Erde.
Aber jetzt ist Aufruhr im Land.
Lärm und Räderrollen, Kommando, Schrei und Befehl. Seit Wochen unübersehbare Militärkolonnen, Mann und Munition, Geschütze, Kanonen, Feldküchen, Lazarette. Reiterschwadronen querfeldein, Marschschritt in den friedlichen Dörfern. Einquartierung von Soldaten, Errichtung von Lagern auf fruchtbaren Äckern, zertrampelter Grund. In das Umland der Elbe wälzen sich gewaltige Armeen Richtung Königgrätz: Vom Süden her kommen die Österreicher aus Brünn, Olmütz und Pardubitz. Vom Nordwesten