Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner
zur großen Schlacht.
Um Land und Bodenschätze? In den Annalen steht geschrieben: Jetzt, 1866, geht es um den Ausschluss Habsburgs und des österreichischen Kaisers aus dem Deutschen Bund. Um Machtgewinn für das aufstrebende Preußen.
Es ist Krieg.
Die, die ihn befehlen, wissen immer, worum es geht.
Jene, die für ihn sterben, selten.
Dies hier ist ein Bruderkrieg.
Sind sie nicht kurz zuvor noch Waffenbrüder gewesen, Preußen und Österreich gemeinsam gegen Dänemark um Schleswig und Holstein? Und werden sie nicht bald darauf den Zweibund zur Freundschaft und gegen zukünftige Feinde schließen und dies wiederum nur wenige Jahre später für einen Krieg nützen, der zum Weltenbrand werden wird?
Warum dazwischen dieser Krieg?
’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre
Und rede Du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!
2. Juli 1866.
Kalter Regen fällt auf die Felder nieder.
Fällt von den Bäumen auf die Zelte eines Feldlagers.
Es liegt am Fuß des Hügels von Chlum.
Johannes Czermak wartet.
Geduldig poliert er sein Signalhorn.
Obwohl es blank ist wie eine Monstranz.
Er hat Angst.
Zwei seiner Freunde sind mit ihm gekommen.
Kaum sechzehn Jahre alle drei.
Viel zu jung für den Krieg.
Johannes, Bohumil und Ferdinand.
Sie glaubten dem Plunder der Parolen.
Die Mädchen werden Kränze flechten.
Eitles Herz, berauscht von sich.
Vom Gerassel einer angeblich großen Zeit.
Sie wussten nicht, was das ist: eine Schlacht.
Johannes hat sich an den Rand des Lagers zurückgezogen. Zwischen drei Bäumen ist eine Plane gespannt, hier ist er geschützt. Er redet sich ein, dass er voll Vorfreude ist, begierig, in die Schlacht zu gehen und für Kaiser und Vaterland zu sterben. „Seinen Mann stellen“, auch das hat er oft gehört. Stirbt man leichter und leichtsinniger, wenn man jung ist? Warum kommt ihm jetzt Agáta in den Sinn, die zarte Geigenspielerin aus der Musikschule von Neustadt an der Mettau? Agáta, die ihn Jan oder Johánek nennt, eine weiche Melodie in ihrem Sprechen hat und ihm die Haut zum Brennen bringt? Er verdrängt ihr Bild und kommt wieder auf Tapferkeit und Mut und Ehre. So heißt es doch, so steht es in den Zeitungen und auf den Anschlägen an Rathäusern und Kirchen. So wird geredet überall und die Faust gereckt und Hurra gerufen. Was jedes einzelne Wort bedeutet, darüber denkt er nicht nach, die Worte sind groß und hehr und Rattenfänger.
Die drei Freiwilligen-Freunde wurden rekrutiert. Da die Zeit für die Befähigung zur Waffe kaum reichte, sie alle drei jedoch gute Musiker waren, wurden sie zunächst als Heeresmusiker angenommen: Johannes als Trompeter, Bohumil und Ferdinand als Trommler. Ein rudimentäres Trompetencorps für die Infanterie. Gegebenenfalls könnten sie in eine größere Formation eingegliedert werden, denn wichtig ist Musik im Kampf, aufputschend immer voran, tatámtatara, zum freudigen Angriff! Da lagen sie nun, in einer der zahllosen Einheiten der habsburgischen Armee am Fuße des Hügels von Chlum.
Nahe von Königgrätz.
Am Rand des Böhmischen Paradieses.
Johannes war der, der den Ton angab. Er war wendig in Körper und Kopf. Groß gewachsen und zäh. Sein Haar trug er immer länger als seine Kameraden, strich es zurück, wenn er träumte, ließ es über die Augen fallen, wenn er wütend war. Manche fanden, er wäre ein wenig wankelmütig. Schnell, vielleicht zu schnell begeistert, schnell entmutigt. Er lernte leicht, sprach sprudelnd, liebte jedoch mehr, was er verschwieg.
Vor allem liebte er das Trompetenspiel.
Das Strahlende an ihm, Engel mit den Posaunen.
Liebte das Laute und Wilde.
Es riss den Himmel auf.
Gold und Messing und Jubel.
Trompete war Überschwang und Schmetterei.
Schmeichelei in den leiseren Tönen.
Er war noch so jung.
Mühelos hatte Johannes die Klappentrompete erlernt und jüngst die vor kurzem erfundene Ventiltrompete, die noch etliche Gegner unter den Musikern hatte. Aber in Neustadt hatte er Herrn Procháska als ersten Lehrer gehabt und jetzt in Braunau den Kapellmeister Sorokin, der aus Czernowitz stammte und über ein reiches Musikrepertoire verfügte, beide hervorragende, aufgeschlossene Lehrer. Und das Signalhorn für die Schlacht war sowieso ein Leichtes. Die Töne flogen ihm voraus, es war, als ob er ihnen folgen und ohne Mühe zu den Wolken aufsteigen könnte.
Johannes entstammte einer gemischten deutschböhmisch-tschechischen Familie aus Neustadt an der Mettau/Nové Město nad Metují, Bohumil war Tscheche aus Pardubitz/Pardubice und Ferdinand war der Sohn von assimilierten jüdischen Eltern aus Wien. Sie gingen zusammen in das Gymnasium des Benediktinerklosters von Braunau an der böhmischschlesischen Grenze und durften bereits groß aufspielen mit Orchester und Orgel zur Feier des Heiligen Benedikt oder mit der Blasmusik an der Spitze eines Festzuges anlässlich der vielen Stadtfeste. Sie genossen den Jubel und fühlten sich wichtig.
Die blühende Stadt Braunau, tschechisch Broumov, liegt auf einer flussreichen Hochebene zwischen den Ausläufern des Falken- und Eulengebirges sowie in einem spannungsreichen Grenz- und Mischgebiet. Nur einen Steinwurf von der damaligen schlesisch-preußisch-polnischen Grenze entfernt, war seine Lage immer schon ideal für lebhaften Handel und gute Verkehrswege. Viele Sprachen waren auf dem ausladenden Marktplatz zu hören, Deutsch, Polnisch, Jiddisch, Ruthenisch und Tschechisch, das im größeren Raum von Böhmens Nordosten vorherrschend war. Das habsburgische Kaiserreich stand über allem, über Stadt, Kloster und rechtschaffenem Gedeihen, und verstand sich als Schirmherr gegenseitiger Toleranz. Die Wirklichkeit hat andere Draperien und drängt auf handfeste Lösungen.
Sonntagnachmittag im Kaffeehaus. Die Stunde, die die Freunde zur freien Verfügung hatten. Hier wurde Schach und Billard gespielt und unterschiedliche Zeitungen lagen auf: Die Neue Freie Presse und das Fremden Blatt aus Wien, die Prager Zeitung und die Schlesische Zeitung aus dem preußisch regierten Breslau. Sie fühlten sich sehr erwachsen, zündeten sich eine Zigarette an und schlugen ein Bein über das andere. Inmitten von Qualm, zitternden Staubpartikeln und der Geräuschkulisse leisen Gesprächs lasen sie von Aufrüstung und Abrüstung und von neuerlicher, sogar verstärkter „geheimer“ Rüstung. Sie verfolgten die gegenseitigen Vorwürfe, Bezichtigungen und Beschuldigungen, die Lügen und die Prahlereien. Lasen von Wahrheit und Gerechtigkeit und immer war Gott im Krieg dabei, mit Überzeugung auf jeder Seite. Im Gymnasium der Benediktiner war es klar, auf welcher Seite Gott stehen würde, auf der österreichischen selbstverständlich, auf der katholischen. Die meisten Patres predigten den Angriff auf die preußischen Protestanten.
Nur einer, ein Mann mittleren Alters namens Korbinian, der neu in das Kloster gekommen und offensichtlich kein Ordensmitglied war, fand einen anderen Zugang. Johannes fühlte sich spontan zu ihm hingezogen. Korbinian lehrte Poesie, Grammatik und Geschichte, aber sein Unterricht unterschied sich vom übrigen. Am Ende einer Stunde forderte er seine Zöglinge auf, nachzudenken. Zum Beispiel über jene Stelle aus Homers Ilias, der zufolge Achill den besiegten Hektor von schnellen Rossen um das Grab seines Freundes Patroklos schleifen lässt, zwölf Tage lang. Oder sich in einen Soldaten zu versetzen, der beobachtet, wie sein Feldherr Napoleon mit der Leibgarde sicher über die Beresina setzt, während Abertausende in panischer Flucht vor den russischen Verfolgern niedergemetzelt und