Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner
errichtet werden.
Johannes, Bohumil und Ferdinand hatten wenig Lust, darüber nachzudenken. Das eine Beispiel war Mythos, das andere gemildert durch die Tatsache, dass Napoleon von gerechter Strafe ereilt, schließlich besiegt und auf St. Helena verbannt wurde. Außerdem lagen die Begebenheiten so weit zurück, was sollte sie das angehen, sie, die gerade sechzehn waren und alles, was sich vor ihrer Geburt ereignet hatte, als Kehricht ansahen.
Die Wirklichkeit ist offen und elastisch, hatte Pater Korbinian gesagt. Sie heißt alles willkommen – die Tatsachen, die es gibt, wie Granit und Granatäpfel, und jene, die sie schafft durch bravouröse Rhetorik, wie Krieg und Frieden. Aber da waren die drei schon beim Trommeln und Trompeten.
Als die Kunde vom nahenden Krieg kam, wurde das Konvikt geschlossen und die Schüler wurden nachhause geschickt. Auf der Postkutschenreise redeten sie sich in Euphorie. Weg von Kloster und Gott, weg von daheim, den Maßregelungen und dem Alltäglich-Langweiligen. Hin zu Abenteuer, Dreinhauen und Nichts-gefallen-Lassen. Vom Feind. Die Preußen wären sich zwar ihrer Überlegenheit durch straffe Disziplin und das hochmoderne Zündnadelgewehr gewiss, was sollte dieser Schlagbolzen jedoch ausrichten gegen „eine Million auserlesener Soldaten“ der Österreicher? Eine Viertelmillion sei schon auf dem Weg, Soldaten aus Böhmen, Mähren und Wolhynien, aus Galizien und Lodomerien, Ungarn, Österreich und Illyrien, Kroatien, Dalmatien und Slawonien… Und im Kopf gingen die Reden von Hass und Hetze im Kreis. Also nieder mit dem Feind!
Sie debattierten mit brennendem Herzen und wenig Verstand. Redeten sich in einen heißen Wirbel im Getrappel der Pferde, und Habsburg wurde immer besser und Preußen immer schlechter, der Kaiser in Wien ein sorgender Vater für seine Völker, der preußische König und sein Ratgeber Otto von Bismarck hingegen Vertreter von „Blut und Eisen“, Habsburg wurde zur Schirmmacht und Preußen zum Aggressor, und das, nein, das wollten sie denn doch nicht dulden, die drei in der Postkutsche, so weit waren sie gekommen, als sie durch die dichten Wälder des Falkengebirges hinunter nach Hronov und durch Nachod fuhren. Und als bald danach Neustadt an der lieblichen Mettau vor ihnen lag, wo Johannes zuhause war, war der Entschluss gefasst: Dass sie für Kaiser und Vaterland kämpfen würden auf Biegen und Brechen. In den Krieg!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?
2. Juli abends.
Kalter Regen fällt auf die Soldaten nieder.
Johannes lehnt an einem Baumstamm am Rand des Infanterie-Feldlagers Nr. … Die genaue Bezeichnung hat er sich nicht gemerkt. Die eilige Verlegung gab ihm keine Möglichkeit mehr, seinen Eltern Ort und Abteilung zu schreiben. Erst seit kurzem weiß er, dass der Ort hier Chlum heißt. Das Dorf liegt auf der Kuppe eines bei Schönwetter weithin sichtbaren Hügels und besteht nur aus einer Handvoll Häusern, umgeben von Feldern und Wiesen von großer Fruchtbarkeit. Vom Tal der Elbe aus gesehen ruht es wie eine Verheißung unter dem Blau des Himmels und den Sternen der Nacht.
Aber es war Krieg.
Chlum wurde zum strategischen Orientierungspunkt für die Heerführer beider Lager. Auf österreichischer Seite war es Feldzeugmeister Ludwig August Ritter von Benedek, Preußens Heerscharen wurden angeführt von König Wilhelm I. und seinem Generalstabschef, Helmuth von Moltke. Die tragische Geschichte Benedeks wird in zahlreichen Berichten und Büchern beschrieben werden und Johannes wird sie Jahre später lesen – aber morgen schon, bereits am Abend nach der Schlacht, wird Benedek als zögerlich bis unfähig beurteilt werden, Moltke als genial.
Düster die Wolken, regenverhangen der anbrechende Abend.
Im Lager Unruhe, Hektik, Kommandos. Vereinzelt ein Streit. Das Klirren von Gläsern aus einem Zelt, Singen. Artillerie wird in Stellung gebracht. Munition aufgefüllt. Granaten und Schrapnells in Kisten dorthin und dahin getragen. Säbel werden in die Scheide gesteckt. Bajonette auf den Vorderladergewehren geschärft. Pferde gefüttert und gestriegelt. Sättel aufgebockt. Offiziere abseits im Gespräch. Ordonanzen eiligen Schritts. Ein Reiter kommt im Galopp aus Richtung Josephstadt an der oberen Elbe, wo Benedek sein Hauptquartier aufgeschlagen hat.
Johannes spielt leise auf seiner Trompete.
Er spielt eine Fuge von Bach.
Bohumil und Ferdinand kommen angerannt.
Rufen: Morgen!
Morgen geht es los!
Wenn tausend, tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, nun alle arme Leute,
Wehklagten über mich?
3. Juli 1866.
Der Schlaf kam als Gaukler in dieser Nacht. Ließ schlafen und erwachen und aufschrecken und Johannes trieb es in dieses Morgen und zurück ins Gestern. Und fragte und zweifelte und war zerzankt mit sich. Flugsand von Erinnerungen. An die Mutter, die sich abwandte, als er ging, an die zornige Geste des Vaters, des Tischlermeisters Quirin Czermak, der sich an die Stirn schlug und in einem ausholenden Bogen die Hand resigniert sinken ließ, an Cäcilia, die Schwester, die am Fenster stand und die Hände über der Brust kreuzte. Aber waren nicht die beiden älteren Brüder, Franz und Karl, längst in der Armee? Sie mussten ja, als die Mobilmachung ausgerufen wurde. Karl, der sich Karel nannte, wollte zwar nicht gehen, aber Franz ging pflichtbewusst. Im Halbschlaf wurde Johannes von groben Männern fortgezerrt, er riss sich los im Traum und flüchtete in die Tischlerwerkstatt des Vaters, roch den Leim, hörte das Hämmern und Nageln, draußen war Winter, der Platz mit den Arkaden war zugeschneit, es war sein Marktplatz, sein Städtchen, in dem er geboren war und das er in sich trug als glückliche Selbstverständlichkeit: Neustadt an der Mettau. Ein Kleinod sei es, hörte er seit seiner Kindheit sagen, ein Renaissance-Juwel, auf eine steil abfallende Tonschieferrippe gebaut, an drei Seiten von der Mettau umflossen, alte Bürgerhäuser, ein Schloss und eine Kirche in der Diagonale des Stadtplatzes, in dessen Mitte eine Dreifaltigkeits- und eine Mariensäule zum Schutz aller Menschen, die hier lebten. Die Tschechen nennen das Städtchen Nové Město nad Metují und ihn, Johannes, nennen sie von klein auf Jan und beides war ihm recht,
– und als der Morgenappell durch den Regen hindurch die Zeltgassen entlangtönt, war er im Traum doch gerade Schlittschuhlaufen auf der zugefrorenen Mettau, es krachte, das Eis barst,
– und zum zweiten Mal wird zur Tagwache geblasen, lauter diesmal, drängender, auftaumelnd stößt Johannes mit Bohumil zusammen, der ihn an den Schultern rüttelt, alle drei springen in die Montur, nehmen ihre Instrumente, Trommel und Signalhorn, das lauter ist, auch ordinärer als die schlanke Trompete, gut für das Aufpeitschen der Soldaten, um sie voranzujagen und ihnen die Angst vor dem Tod und dem Töten zu nehmen. Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten hängen um ihre Schultern, denn auch die Musikanten müssen zur Waffe greifen, wenn das Mutmachen zu Ende und der Schlachtenruf zum dritten oder vierten Mal verklungen sein wird, – Johannes, Bohumil und Ferdinand spielen sich in einen Rausch, tatütatü-tatámtatara, sie stürmen mit der ganzen Kompanie den schlammigen Acker des Hügels von Chlum hinauf, wie durch ein Wunder überleben sie den mörderischen Kugelhagel der preußischen Zündnadelgewehre, die vier-, fünfmal schneller nachladen und schießen können als die hoffnungslos veralteten Vorderlader der österreichischen Truppen, sie stürmen im Schein des brennenden Kirchturms, dichter Nebel und der Gestank verbrannten Pulvers liegen über dem Schlachtenlärm, sie werden zurückgeworfen, greifen wieder an, Dröhnen der Kanonen, Splittern von Granaten, ein verirrtes Schrapnell, das vorzeitig in der Luft explodiert, prasselt