Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner

Gesicht im blinden Spiegel - Brita Steinwendtner


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waren. Sie hätten gerne erfragt, ob Bohumils Eltern Genaueres über die letzten Tage vor der Schlacht wüssten, ob sie herausgefunden hätten, wo genau, in welchem Kampf, unter wessen Kommando Bohumil zu Tode gekommen wäre – sie waren jedoch auf kühle, fast feindselige Ablehnung gestoßen und mit der Auskunft abgefertigt worden, dass man nichts wüsste. Auf dem Partezettel stand nur: Geboren am … Gestorben am 3. Juli 1866. Der dritte der drei Freunde, Ferdinand, war möglicherweise von den Preußen gefangen genommen worden. Franz hatte dessen Namen in den Gefangenenlisten gefunden, es hatte sich jedoch herausgestellt, dass es nur eine Namensgleichheit war, und von einem sechzehnjährigen Ferdinand Weiss aus Wien gab es vorläufig keine Kenntnis. Die Behörden versprachen weitere Nachforschungen. Ferdinands Eltern übersiedelten bald darauf nach Czernowitz, von wo aus sie alles versuchen wollten, um den Verbleib der Söhne herauszufinden.

      Quirin Czermak stand in seiner Werkstatt an der Rückseite des Hauses Nr. 1223.

      Er blickte in das sonnige Gärtlein.

      Nahm gedankenlos ein Werkzeug zur Hand.

      Legte es wieder hin.

      Dachte daran, wie alles geworden war.

      Die Werkstatt hier war ihm längst zu klein, darum hatte er am Ufer der Mettau ein leerstehendes Gebäude gemietet. Er selbst ging mehrmals am Tag den steilen Fußweg mit den vielen Treppenabsätzen hinunter, um den beiden Gesellen und dem Lehrbuben Anweisungen zu geben und die Arbeit zu überwachen. Quirin war Kunsttischler und weithin bekannt für seine Geschicklichkeit und seinen ästhetischen Sinn. Vom Lehrbuben in Jičín hatte er sich zum gesuchten und hoch geschätzten Kunsttischler mit zwei Betrieben in Neustadt emporgearbeitet. Er war ernst und zuverlässig und lieferte pünktlich. Sein Ruf gründete sich vor allem auf seine Fertigkeit, Kommoden und Kästen, Tische und Sessel sowie kleinere Einrichtungsgegenstände und Schatullen in barockem Stil anzufertigen. Das war gerade in Mode gekommen und beliebt in Adelskreisen und bei zu Ansehen und Reichtum gekommenen Bürgern. Er war viel unterwegs in den zahlreichen Schlössern und neuen Villen des Böhmischen Paradieses, des Glatzer Grenzlandes und des Königgrätzer Kreises. Wenn er eine neue Bibliothek mit verzierten Einbauten auftragsgemäß ausgeführt hatte und die Bücher wieder in Reih und Glied standen, nahm er mit Staunen diese für ihn neue Welt wahr. Er hatte Scheu und Ehrfurcht davor. Und erzählte zuhause den damals noch kleinen Kindern davon, mit unterschiedlicher Resonanz. Nur Johannes hatte große Augen gemacht und wollte das nächste Mal mitgenommen werden. Rosa bewunderte liebevoll ihren Mann, der begonnen hatte, sich selbst eine kleine Bibliothek zu bauen, Bücher zu kaufen und sie auch zu lesen. Rosa war auf einem Bauernhof aufgewachsen, auf dem die tägliche Mühsal und Sorge um Kuh, Krautkopf und Heuschober das Leben bestimmt hatten, nur ein Kalender hing an der Küchenwand mit Heiligengeschichten.

      Bei der adeligen Herrschaft von Neustadt war Herr Czermak beliebt. Das Schloss, das auf dem Felsrücken hoch über der Mettau lag, hatte mehrmals die Besitzer gewechselt, von den Leslies zu den Liechtensteins bis zu den Lambergs und anderen. Die herrschaftlichen Familien wohnten schon lange nicht mehr hier, sie kamen nur kurz auf Besuch und hatten einen Verwalter eingesetzt. Wichtig für sie waren allein die beträchtlichen Erträge aus Land-, Forst- und Handelswirtschaft. Dass diese mit zunehmender Liberalisierung und dem Aufkommen weitläufiger Industrieanlagen kleiner wurden, nahmen sie mit Unmut zur Kenntnis.

      „Groß genug für das Adelspack“, sagte Karel, „jagt sie zum Teufel, diese österreichischen Ausbeuter!“

      „Vergiss nicht“, entgegnete der Vater, „dass unter ihnen auch viele böhmisch-tschechische Geschlechter waren und sind, die Wallensteins zum Beispiel, die ursprünglich Valdštejna geheißen haben, wie du weißt, die Trčkas, Kinskys und so weiter –“

      „Egal, sie haben uns alle lang genug regiert und ausgesaugt! Und die meisten sind ja doch aus Wien gekommen, zumindest aus dem Dunstkreis des Kaisers, dem das reiche Böhmen brav den immer leeren Säckel gefüllt hat.“

      „Gebt doch Frieden“, sagte Rosa und brachte die süße Nachspeise. Der Nebel stand vor den Fenstern der Wohnstube im ersten Stock des Hauses am Marktplatz von Neustadt an der Mettau oder Nové Město nad Metují, dem Städtchen, das abseits lag und nur ein kleiner Reflex auf der Spiegelwand der großen Weltbühne war.

      Der ganze Besitz des Schlosses zeigte Spuren von Verfall. Ab und zu kam die Gräfin Elisabetta, die volksnah und in vielen karitativen Organisationen tätig war, um nachzusehen und das Schlimmste zu verhindern. Sie hatte Quirin beauftragt, die vom Holzwurm zerfressene Bibliothek zu restaurieren. Es war eine langwierige und mühsame Arbeit. Die Gräfin unterhielt sich gerne mit dem Tischler. Eines Tages brachte sie einen bescheidenen Imbiss, schenkte aus einer verstaubten Flasche zwei Gläser Weißwein ein und forderte ihn auf, Platz zu nehmen.

      „Lernt einer Ihrer Söhne nicht Trompete?“

      „Ja, Johannes, der Jüngste.“

      „Er geht doch in die Musikschule, die ich unterstütze?“

      „Ja, seit zwei Jahren schon.“

      „Scheint sehr begabt zu sein.“

      „Das freut mich zu hören, Frau Gräfin.“

      „Ist er auch ein Leser?“

      „Ich glaube, auch das bejahen zu können.“

      „Liest er mit Freude und Eifer?“

      „Darüber könnte Ihnen meine Frau besser Auskunft geben. Eingeschrieben ist er jedenfalls im hiesigen Lesezirkel Zur Slawischen Linde, die, wie Sie wissen, nach dem Revolutionsjahr 1848 gegründet worden ist. Und in den Ferien bringt er aus dem Gymnasium von Braunau jeweils einen Stapel Bücher mit nachhause, die er sich aus der Klosterbibliothek leihen darf.“

      „Dann habe ich ein Geschenk für ihn.“

      „Frau Gräfin –?“

      „Den Trompeter von Säckingen.“

      „Ist mir nicht bekannt.“

      „Joseph Victor von Scheffel hat das Buch geschrieben.“

      „Es wäre meinem Sohn sicher eine Ehre! Verbindlichsten Dank, Frau Gräfin.“

      Johannes war damals dreizehn Jahre alt. Als er zu Weihnachten nachhause kam, fand er das Buch und ward nicht mehr gesehen. Las den Sang vom Oberrhein in einem Tag zu Ende. Hatte einen roten Kopf und fliegende Gedanken. „… der Welt eins aufspielen und titanisch Himmelstürmen mit der Kunst um ewig ferne Schönheit…“ Johannes las und las wieder und lernte auswendig. „…in der Schlacht zum Angriff blasen, markig und bedeutsam…“ Und Johannes spielte. Und wollte werden wie der junge Trompeter von Säckingen. Bis dahin war er ein guter Trompetenschüler, ab jetzt war er eingeweiht.

      Quirin Czermak ging in der Werkstatt auf und ab.

      Spatzen hüpften durch den kleinen Garten, der bis an die Wehrstraße reichte, die das Städtchen umfasste. Durch die Fenster fiel Sonnenlicht, in dem feiner Holzstaub zitterte. Im schmalen Beet an der Mauer roch der Salbei, blühten die Rosen, reiften die Marillen am Spalier. Ein Truthahn schickte seine Koloraturen in den Tag. Er hörte Cäcilia Klavierspielen. Die Liebe zur Musik hatten sie und Johannes von der Mutter geerbt, die oft mit den Kindern sang, gut Akkordeon spielte und mit der tschechischen Volksmusik aufgewachsen war. Zu allen Festen wurde in den Dörfern ringsum aufgespielt, zur Kirchweih, zum Christfest, zur Auferstehung und zum Wochenmarkt, zu Geburtstagen, Ehrungen und Beerdigungen. Oder einfach zur Lust, um die Schinderei des Tages zu vergessen. Johannes hatte sein Trompetenspiel schnell vervollkommnet und durfte bei den Festen der Nationalgarde bereits in der ersten Reihe der Kapelle mitmarschieren.

      Jetzt lag seine schlanke Ventiltrompete in einem Zimmereck.

      Das Signalhorn hatte er ja mitgenommen in die Schlacht … Eine Dose Holzleim fiel dem Tischlermeister aus der Hand. Er grollte mit sich selbst, als er die Reste aus den Hobelspänen zu retten versuchte, es war ein teurer Leim, den er erst kürzlich in der Soukenická von Königgrätz gekauft hatte.

      Sehr unruhig, zerfahren war Herr Czermak. Vormittags hatte er den Metzger Brandeis getroffen, der weit in der Gegend herumkam,


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