Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner

Gesicht im blinden Spiegel - Brita Steinwendtner


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kleine Zukunft.

      Den Johanniter sah er seltener als früher. Der Ordensmann war tagelang bei Kranken auswärts unterwegs und im Haus selbst in vielerlei Pflege und Organisation eingebunden. Johannes vermisste ihn. Ihn und die Wärme, die von ihm ausging, die dunkle, weiche Stimme, die ihn zurückbrachte, wenn er ins Nichts wollte. Er rügte sich selbst, einen so abgegriffenen Vergleich zu denken: wenn der Johanniter kam, ging die Sonne auf. Der seltsame Mann wusste gut zu unterhalten, berichtete von der Welt draußen, dem Absterben und dem Wiederkommen, der neuen Mode und den neuen Fabrikschloten, vom Tod eines Dichters namens Heinrich Heine und dann sprach er, verwirrend und verworren für Johannes, von einem „Privilegium de non tolerandis Judaeis“, dann wieder von Galilei oder der Abschaffung der Sklaverei in den USA, sprach von Flucht und Kriegen, dem Trojanischen, dem Dreißigjährigen und den weltumspannenden, die bevorstünden, erzählte von Giftgas und Revolutionen. Er sprach vollkommen ununterschieden und selbstverständlich von dem, was war und was sein und kommen würde, als ob er auf Flügeln die Jahrhunderte überbrückte oder auf einem Regenbogen.

      Der Mann hatte etwas Rätselhaftes.

      Er war ohne Zeit und ohne Begriff.

      Jeden Sonntagmorgen, bevor sie gemeinsam zur Messe in die Ordenskirche gingen, brachte der Johanniter ein neues Buch oder die Schlesische Zeitung mit. Und immer nahm er wie nebenbei ein Blatt aus einem kleinen Stapel von Zetteln, den er aus der Innentasche seines langen Habits zog, und legte es Johannes auf den Tisch. Darauf hatte er in einer kleinen Schrift eine Strophe oder ein, zwei Sätze geschrieben, ohne zu vermerken, von wem sie stammten oder den Beschenkten aufzufordern, darüber nachzudenken. Nur einen einzigen Namen hatte er unter dem Zitat „Il fine dell’ uomo, come d’ogn‘ altro animato, è vivere“ angegeben: Paolo Sarpi. Dadurch waren beide wie ein Wegweiser herausgehoben und Johannes im Gedächtnis geblieben. Die übrigen Beispiele standen einfach da als Zeichen für irgendetwas.

       … mit der einen hand zeichnen sie soldaten, und mit

      der anderen radieren sie sie wieder aus.

      Laß ab von diesem Zweifeln, Klauben,

      Vor dem das Beste selbst zerfällt,

       Und wahre dir den vollen Glauben

       An diese Welt trotz dieser Welt

       … verliebt in das Grün des fernsten Grases

      Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht.

      Ich glaube keinem, der sie gefunden hat.

       Il carnato del cielo

       sveglia oasi

       al nomade d’amore

       Die Rötung des Himmels

       weckt Oasen

       für den Nomaden der Liebe

       Mein sind die jahre nicht, die mir die zeit genommen;

       Mein sind die jahre nicht, die etwa möchten kommen;

      Der augenblick ist mein, und nehm’ ich den in acht,

      So ist der mein, der jahr und ewigkeit gemacht.

      Eines Tages – es war kurz vor der Entlassung des Patienten – machte der Johanniter mit Johannes eine Ausfahrt. Es war die erste nach fast zwei Jahren. Johannes hatte Angst.

      Er sträubte sich, aber der Mann führte ihn vor das Tor, wo eine Droschke mit zwei braunglänzenden Pferden und einem Kutscher wartete. Sie fuhren durch die belebte Stadt, die zur Großstadt geworden war. Fuhren über die Zuflüsse der Oder, in deren Tiefebene Breslau liegt, und über Hunderte von Kanälen, die der Stadt schon früh den Ruf eingetragen hatten, das „Venedig des Nordens“ zu sein. Es war ein milder Abend, die Straßen und Plätze waren überfüllt mit Menschen, vor den Hotels standen livrierte Pagen, Glocken tönten von der Marienkirche, der Duft von Gebratenem lag in der Luft, aus einem Haus hörte er Geigenmusik, aus einem anderen Streit, Knechte schleppten weiße Säcke in eine Bäckerei, Kinder spielten Ball, ein Marktschreier bot Lakritzen an und ein anderer Gewinnlose, es war ein Leben, wie er es gekannt hatte von früher.

      Es war die Alltäglichkeit, die weitergegangen war in den Monaten, als er litt, es gab also noch ein Lachen und es gab Burschen und Mädchen, manche umarmten sich und eine wahnsinnige Lust überkam ihn, dabei zu sein, mittendrin, wieder Teil der Welt zu werden –

      – und Johannes beugte sich aus dem Fenster der Droschke und wollte singen, und hatte plötzlich das Bild von Agáta vor sich, die damals, ja, irgendwann bevor es geschah, in der Musikschule zugleich mit ihm Unterricht genommen hatte, Agáta, die so zart Geige spielte, deren Kleid wehte, wenn er sie nachhause begleitete und die sagte, wie schön hast du heute wieder gespielt mit Deiner Trompete, Jan, war das eine Fuge von Bach? Sie hatte Jan zu ihm gesagt und jetzt schien es ihm, dass aus ihrem Mund der tschechische Name zärtlicher klang, Agáta, die eine leichte Röte auf ihren Wangen hatte, wenn sie sich vor dem Gartentor ihres Elternhauses verabschiedeten und sie mit ernster Miene sagte, bis morgen, Jan, und es ihm ganz heiß geworden war… Und in der Droschke durch die Gassen von Breslau und das pralle Leben fahrend, dachte er: Vielleicht hab ich für sie spielen wollen im Krieg, ihr zeigen, dass ich schon ein mutiger Mann bin und vor sie hintreten in der Uniform eines kaiserlich-königlichen Feldmusikanten – –

      und da spürte er die Hand des Johanniters, der sagte:

      „Jetzt bist du angekommen, Johannes.“

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      Drei Wochen später wurde Johannes aus dem Ordensspital entlassen. Der älteste Bruder kam, um seinen jüngsten abzuholen. Franz hatte sich vier Tage Urlaub genommen. Er hatte ein beträchtliches Geldgeschenk des Vaters dabei, das er dem Johanniter mit ausdrücklichem Dank der Eltern als Spende für den Orden überreichte. Der Vater hätte gern mehr gegeben, sagte Franz, aber er wäre seit dem Unglück mit Johannes ein gebrochener Mann. Das Zittern seiner Hände würde ihm keine feinen Schnitzarbeiten mehr erlauben, so dass die Geschäfte nicht mehr so gut gingen wie früher.

      Ein breitkrempiger Hut warf Schatten auf Johannes’ Gesicht. Leicht gebückt, aber halbwegs bei Kräften, ging er am Arm seines Bruders zur Droschke, die sie zum Bahnhof von Breslau brachte. Hier begann die lange Reise, die sie mit mehrmaligem Umsteigen über Mährisch-Ostrau, Olmütz und Pardubitz in das ehemalige Hussitenstädtchen Josephstadt/Jaroměř führen würde, wo die Mettau in die Elbe mündet und sie nur mehr ein kurzes Stück nach Neustadt zurückzulegen hätten.

      Nachhause.

      Franz hatte sich diese Route liebevoll ausgedacht, um auf diese Weise Johannes in ein neues, überraschendes Leben zu führen und der Erinnerung an die Schlacht einen Gegenpol zu offerieren. Er wollte ihm zeigen, wie schnell und unabhängig vom Schicksal des Einzelnen die Karawane der Menschen weiterzog, über das Geschehene hinwegging, schuldbeladen, achtlos oder freigedacht. Neuen Zielen zu, einem Fortschritt entgegen, der nicht aufzuhalten sein würde.

      Johannes stand in der Bahnhofshalle und richtete sich auf. Sah die hohen Glas- und Eisenkonstruktionen, die Arabesken und Goldintarsien in den Mosaiken, sah die Buntheit der eilenden Menschen, die keine Notiz von ihm nahmen und sich in einem Strudel von Sprachen unterhielten, Polnisch, Tschechisch, Deutsch, Russisch, Ungarisch und Jiddisch, hörte das Englisch und Französisch fremdländischer Herren, aus dem Gewirr von Rufen, Fragen und Gepäckstücken erstand eine Welt aus Kaufleuten, Beamten, Luxusreisenden und Ochsenhändlern, aus hochmütigen Damen, Getreidemaklern und galizischen Rabbinern, und Johannes sah die rauchige Bierstube mit armseligen Gestalten und das elegante Restaurant mit weiß gedeckten Tischen, auf der Empore des Speisesaales spielte eine Kapelle Walzermelodien, er hörte das ungeduldige Rufen der Träger, die Maschinen der gewaltigen Lokomotiven sprangen in stotterndem, dann rhythmischem Takt an, Räder ächzten, Johannes stand da im Qualm und unter dem Gewölbe aus Lärm und Stimmen und war nichts als Staunen. Und wunderte sich immer noch, als sie


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