Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner

Gesicht im blinden Spiegel - Brita Steinwendtner


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bin mittendrin gewesen auf dem Marsch zurück“, erzählt Karel später im elterlichen Haus auf dem Stadtplatz von Neustadt an der Mettau, „das war ein Desaster, wer redet da von ‚geordnet‘? Im Straßengraben sind wir gelegen, haben unsere zerschundenen Füße gekühlt, elendiglich war das, kein Wasser, nichts zu trinken, im Kampfgebiet waren die Brunnen kaputt oder vergiftet, halb verhungert sind wir, war ja nichts mehr da, alles längst requiriert schon auf dem Hinmarsch, krepierte Pferde, kaputte Geschütze, alles drunter und drüber, alle Sprachen durcheinander, kein Mensch hat den andern verstanden, sechzehn Sprachen sind’s in der Armee, könnt ihr euch das vorstellen? Ulanen und ein paar zerlumpte Tiroler Jäger sind an uns vorbeigeritten, wir zu Fuß waren im Dreck, viele haben ihre Wunden selbst mit irgendeinem Fetzen verbunden, ununterbrochen sind Hilfstransporte an uns vorbeigefahren, die Bahnhöfe waren überfüllt und stinkend von Schwerverletzten und Verstümmelten, die auf einen Zug gewartet haben, die Strecken waren alle gesperrt für den Zivilverkehr, um diese Elendsgestalten, Hunderte und Tausende, nach Wien bringen zu können, kein Sinn im ganzen Krepieren, wozu die ganze Tapferkeit, die Cholera hat viele erwischt, wir waren so erschöpft, dass … Ach was, ihr habt ja doch keine Ahnung! Keine Ahnung habt ihr! Braucht das Zeug, das sie schreiben, gar nicht zu lesen!“

      Der Mann im langen Gewand sucht nach Überlebenden.

      Er kümmert sich nicht um die Heldenfeier des Königs von Preußen. Langsam geht er über das Schlachtfeld, den Blick zu Boden gesenkt, aufmerksam und von Zeit zu Zeit mit einem Stock etwas umdrehend, etwas, das einmal ein Mensch war. Er ist der preußischen Armee attachiert, aber er unterscheidet nicht zwischen Freund und Feind. Er erkennt sie an der Uniform, aber es hat nichts zu bedeuten. Der Mann sucht nach Verwundeten. Prüft, ob nicht doch einer noch lebe. Nicht verblutet sei an zerfetztem Bein, offenem Gedärm oder einer Kugel im Kopf. Die Hoffnung ist nicht groß. Die Nacht ist kalt gewesen, der Tag ist schwül und heiß. Es ist fast zwanzig Stunden nach dem Ende der Schlacht. Große schwarze Vögel haben sich zu reicher Beute niedergelassen. Aber er hat früher mitunter noch nach drei, vier Tagen Überlebende gefunden.

      Der Mann steigt stetig über den Tod.

      Er scheint ein Ritter des Johanniterordens zu sein. Die Johanniter sind die Engel der Schlacht von Königgrätz. Alle sind sie freiwillig gekommen und haben ein kleines Heer besonderer Art mitgebracht: Ärzte, Geistliche, Krankenwärter und -wärterinnen, Bahrenträger, Schwestern und Brüder zur Pflege. Sie kamen, um die dem Militär unterstellten Hilfseinrichtungen zu unterstützen. Waren die ersten, die Lebensmittel und Verbandszeug in die Lazarette brachten, und bauten um die Kampfzone mit freiwilligen Spenden der Ritter bewegliche Krankenstationen auf. Für die Schwerverwundeten öffneten sie ihre großen Ordensspitäler vom Rheinland über Dresden bis zu den Städten Schlesiens. Zu ihrer Unterstützung integrierten sie kleine Gruppen von Männer- und Frauen-Kongregationen aus den unzähligen deutschen Kleinstaaten und Reichsstädten, wie Franziskaner, Barmherzige Schwestern, Alexianer-Brüder oder Cölestinerinnen zur Heiligen Maria. Schon am Nachmittag der Schlacht von Chlum standen siebzig Wagen der Johanniter zum Abtransport der Verletzten bereit.

      Der Mann im langen Gewand ist seit Tag und Nacht und Tag auf den Beinen, ohne ein Stück Brot, nur mit einem Schluck Wasser. Er hat schon Viele gerettet. Er ist müde. Aber noch immer sieht man ihn suchen, langsam und gebeugt.

      Und da – – hat er da eine Bewegung gesehen, eine winzige Bewegung? Das Heben einer Hand, eines Fingers vielleicht nur, aber doch eine Bewegung? War es Täuschung? Er kniet nieder. Tastet, prüft. Ein junger Soldat. Er hat ein zerschossenes Gesicht. Sein Mund ist ein Loch voll verkrustetem Blut. Der Rest eines Signalhorns liegt an einem dünnen Riemen neben seiner Schulter. Der Johanniter fühlt den Puls: der lebt! Ja, der lebt! Er springt auf, winkt den beiden Trägern, die am Waldrand gewartet haben. Kaum noch Wärme in diesem Häufchen Mensch. Ist eiskalt und totenblass, er muss große Mengen Blut verloren haben. Ein zweiter junger Soldat liegt zusammengekrümmt zwischen den Knien des ersten. Er ist tot.

      Kinder, das sind ja fast noch Kinder!, ruft der Mann, als sie den Verletzten vorsichtig auf den zweirädrigen Karren betten und den aufgewühlten Hügel Richtung Lazarett hinunterfahren. Hat man sie einfach zur Schlacht getrieben, braves Schlachtvieh? Hatten die keine Väter, die es ihnen verboten haben, in den Krieg zu ziehen? Wer hat das zugelassen? Wer hat sie so verführt? Und schlägt sich auf den Kopf und rennt voraus. Die beiden Helfer sehen sich verschreckt an. Und leiser, zu sich selbst gesprochen am Rand des Zuckerrübenfeldes: Waren sie selbst so verblendet, so leichtsinnig, so ahnungslos? So überzeugt vom Siegen? Und wussten nichts vom Tod?

      Warum? Wütend schreit er es hinaus: Warum? Da hilft kein Gott, kein Heiliger.

      Er hat viel gesehen, ist schlachterfahren und abgestumpft, um es ertragen zu können. Aber dieser junge Soldat mit dem zerfetzten Gesicht erinnert ihn an einen anderen, der ihm nahe, sehr nahe war. Und den er in den Straßenschlachten von Prag während der Aufstände gegen die Habsburger im Jahre 1848 verloren hat.

      Und den er nicht hatte retten können.

      Der König von Preußen kommt zurück vom Hügel von Chlum. Mit seinem Gefolge reitet er an dem kleinen Elendszug vorüber. Die milchigen, feuchtigkeitsgetränkten Strahlen der Sonne dieses neuen Tages lassen die goldenen Uniformknöpfe aufblitzen. Zwei Offiziere lachen. Die Hufe der Pferde werfen Schlamm auf. Der Ritter von den Johannitern kümmert sich nicht darum. Er beugt nicht das Knie. Er schaut den Halbtoten an auf dem hölzernen Karren.

      Du, sagt er still. Du, ja, du sollst gerettet werden.

       II

      Ein junger Soldat liegt im Lazarett von Jičín.

      Es ist dunkel.

      Es ist Nacht am Tag und Nacht in der Nacht.

      Der Arzt kommt und geht, die Schwestern kommen und gehen. Er merkt es nicht. Nur wenn der Johanniter den Raum betritt, wo die Moribunden liegen, scheint er unruhig zu werden. Die dritte Woche nach der Schlacht geht zu Ende. Noch kann der Arzt nicht sagen, ob der junge Mann durchkommen wird. Er wisse auch nicht, sagt er zum Ordensritter, ob er es ihm wünschen solle. Die rechte Seite von Kinn und Wange ist schwer verletzt, die Unterlippe ein mühsam zusammengeflicktes Etwas. Ein Schrapnell, ein Granatsplitter, eine Gewehrkugel – es ist schwer zu sagen. Ein Glück, sagt der Arzt, dass der Kieferknochen nicht stärker zerstört ist. Ein Teil der Wunden hat zu eitern begonnen.

      Der Patient hat hohes Fieber.

      Schüttelfrost wirft ihn vom Lager auf.

      Dann wieder bricht Schweiß am ganzen Körper aus.

      Der Mann im schwarzen Gewand sitzt an seiner Seite.

      Viele Tage und Nächte, wenn es der Dienst erlaubt.

      Er redet mit dem immer noch Bewusstlosen.

      Nimmt die leblose Hand.

      Redet ruhig, aber stetig und erzählt ihm Geschichten von der Schönheit. Vom Glanz der Sommertage draußen über dem Stadtplatz von Jičín, über den sich der Himmel blau wölbt, als ob nichts geschehen wäre, über den kleine Wolkenbänke ziehen und nachts der Mond aufgeht als Hort der Träume. Erzählt, wie unter den Arkaden das Leben weiterläuft, der Schneider einen neuen Herrenanzug in der Auslage drapiert, eine Bäuerin aus ihrem Weidenkorb Eier, jungen Lauch und rote Ribisel verkauft und in den Wirtshäusern Bier und Nussschnaps ausgeschenkt werden. Dass beim Uhrmacher ein Schild an der Türe hängt mit der Aufschrift „Geschlossen durch Tod von Meister und Lehrbub“ erzählt er nicht und ebenso wenig, dass viele schwarz gekleidete Frauen über das Pflaster gehen, die adeligen Damen mit wehendem Witwenschleier bis zum Boden. Er verschweigt, dass Wehklagen aus den offenen Fenstern zu hören ist und dass der eine oder andere Amputierte den ersten scheuen Ausgang versucht, mühsam das Gehen mit Krücken erlernend mit nur einem Bein oder das Gleichgewicht suchend mit nur einem Arm. Dass Kinder an den Ecken stehen und die Hand aufhalten, die Augen groß vor Hunger. Wenn er daran denkt, schweigt der Johanniter eine Weile. Hält die Hand, streicht mit einem Tuch über die schweißnasse Stirn. Lüftet die Bettdecke. Und beginnt vielleicht wieder zu reden, bevor er geht, und erzählt, dass in den Gärten und Alleen die Akazienblüten


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