Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner

Gesicht im blinden Spiegel - Brita Steinwendtner


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von der Liebe.

      Niemand wusste, wie der Verletzte hieß. Woher er kam und wen man verständigen könnte. Alles, was Auskunft über die Identität hätte geben können, war zerschossen und verloren. Man erkannte an der Kleidung, dass er Österreicher war, zumindest auf der österreichischen Seite gekämpft hatte. Aber man wusste nicht genau, in welcher Kompanie, unter welchem Kommandeur. Viele von ihnen waren tot. Allein bei den letzten Angriffen auf Chlum und Umgebung hatte das I. Korps, Benedeks letzte Reserve, fast 300 Offiziere und beinahe 6 000 Mann verloren. Abertausende waren von den Preußen gefangen genommen worden. Es gab zwar Verbindungen unter den Lazaretten beider Seiten, den Stellen für Gefangenenaustausch und auch zwischen den Organisationen, die sich um den Verbleib der Vermissten bemühten.

      Aber es herrschte Chaos.

      Die Restarmee der Habsburger war auf der Flucht.

      Die Preußen drängten nach.

      Die einen kämpften ums Überleben.

      Die anderen waren im Siegestaumel.

      Man musste also warten.

      Sich gedulden, bis der Verletzte sprechen konnte.

      Falls er je sprechen können sollte.

      Oder schreiben.

      Es war die sechste Woche nach der Schlacht von Königgrätz.

      Der Sommer hatte sich das Böhmische Paradies als sein bevorzugtes Reich gewählt und bedachte es mit allen seinen Gaben. Mit stetem Schönwetter, erträglicher Hitze, milden Gewittern. In den späten Stunden des Tages legte sich angenehme Kühle über Land und Menschen. Morgens stiegen die Lerchen in den tiefblauen Himmel und abends sang die Amsel zur guten Nacht. In den Randgebieten des Paradieses, wo keine Truppen durchgezogen und keine Kämpfe stattgefunden hatten, war das Getreide geerntet, reifte der Hopfen, röteten sich die Birnen und blühten die Levkojen in den Gärten.

      In den Hügeln und Tälern um Rosberitz, Sadowa und Chlum, um Skalitz und Königgrätz sowie in den weitläufigen Ebenen an den Ufern der oberen Elbe begann unter der leisen Melodie der Trauer ein neuer Tag. „Wiederaufbau“ wird es benannt nach jedem Krieg. Die Menschen weinten und arbeiteten. Suchten zusammen, was geblieben war: eine Erinnerung, einen Kinderwagen, eine Säge, ein paar Ziegel, einen Flecken Erde. Sie gingen schlafen und sie gingen ans Tagewerk und sie gingen auf den Friedhof. Sie gingen zur Sonntagsmesse irgendwo in den Trümmern oder blieben trotzig zuhause und irgendwann merkten sie, dass sie überlebt hatten und suchten nach einer Zukunft, vielleicht nach einer kleinen zärtlichen Berührung.

      Helmuth von Moltke besetzte Prag, das geschlagene österreichische Heer flüchtete weiter Richtung Wien. Bekam Verstärkung von Erzherzog Albrecht, der von der siegreichen italienischen Front zurückberufen worden war. In Niederösterreich wütete die Cholera, gierige Trabantin großer Heereszüge. Ministerpräsident Otto von Bismarck, der wie keiner sonst zur Entscheidungsschlacht gedrängt hatte, verhinderte zur Überraschung aller nun die Fortsetzung des Krieges mit besseren Argumenten: Das Ziel, Österreich aus dem Deutschen Bund zu verdrängen, wäre erreicht, jetzt aber wäre es klüger, den Gegner für zukünftige Zusammenarbeit zu gewinnen. Am 23. August 1866 wurde in Prag Frieden geschlossen.

      Um den Mann im langen schwarzen Gewand, der sich Johanniter nennt, ist eine Aura des Unerklärlichen. Wie nicht ganz von dieser Welt, wie zwischen den Zeiten.

      Jetzt öffnet er leise die Tür zum Krankenzimmer. Bleibt eine Weile, geht und kommt wieder und setzt sein stilles Reden fort, du sollst wissen, mein kleiner Soldat, sagt er, dass ein Aufatmen durch das Land geht. Es war ein unseliger Bruderkrieg, aber jetzt ist Frieden. Wenn du aufwachen wirst, wirst du wissen, was das bedeutet: Frieden. Du wirst es erstmals erkennen. Und du wirst später – glaub es mir einfach, Lieber – den Dichter Theodor Fontane lesen, er wird diesen Krieg den „Deutschen Krieg“ nennen und dies zu einer Zeit, in der Preußen bereits den nächsten Krieg siegreich beendet haben wird. Es wird überhaupt viel geschrieben und spekuliert werden, in Berlin auf diese Weise, in Prag auf jene, in Wien auf eine dritte Art und in Lemberg, Sarajewo, Paris oder Venedig noch einmal anders.

      Venetien, auch das sollst du wissen, ist übrigens in seinem italienischen Teil für Österreich verloren. Es ist eine geheime Schacherei der Mächtigen gewesen, dennoch hat man mit Trommeln und Trompeten nur wenige Tage vor Königgrätz zur Schlacht von Custoza geblasen. Sie ist von den Österreichern gewonnen worden, aber es war sinnlos. Verbrecherisch sinnlos die Toten, Verwundeten, Elenden auf beiden Seiten. Venetien war verloren, bevor die ersten Kampfhandlungen begonnen haben …

      Der Kranke stöhnt auf.

      Durch das offene Fenster ist das Wiehern eines Pferdes zu hören, dann ein Kinderlachen, das Springen eines Balls. Leichter Wind bewegt die Vorhänge.

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      In das Haus Nr. 1223 in Neustadt an der Mettau, dem Haus mit dem Schaf als Emblem auf der Fassade zum Marktplatz, war in den Wochen nach der Schlacht von Königgrätz das Schweigen eingezogen. Die Eltern schwiegen, die Tochter schwieg. Die beiden älteren Söhne hatten die Kämpfe überlebt. Franz, der Älteste, war wieder nach Wien abgereist, wo er nach Abschluss des Polytechnikums schon vor dem Krieg eine Stelle im Eisenbahnministerium gefunden hatte. Er war ungern gefahren. Unter den Geschwistern liebte er Johannes am meisten, den Jüngsten, der an seinem großen Bruder hing wie am Leitstern seines Lebens. Johannes war der kleine Rausch in einer nüchternen Familie gewesen, er lachte und wirbelte durch die Wohnung und später spielte er Trompete. Mit elf Jahren hatte er begonnen, er hätte es schon viel früher tun wollen. Aber der Musiklehrer hatte davon abgeraten, denn zuerst müssten Zähne, Kiefer und Lippen gefestigt sein, um einen entsprechenden Druck und eine präzise Spannung aufbauen zu können. Aber elf, zwölf Jahre, da könne man beginnen. Und: der Bub habe großes Talent – das sagte er bereits nach kurzer Zeit. Franz wollte in Wien im Kriegsministerium Nachforschungen betreiben, ein Zeichen finden, einen Hinweis, eine Hoffnung. In den Gefangenenlisten schien Johannes nicht auf, das wussten sie.

      Karel, der es sich verbat, Karl gerufen zu werden und der Neustadt an der Mettau nicht anders als mit dem tschechischen Namen Nové Město nad Metují in den Mund nahm, hatte noch ein Jahr des verhassten Militärdienstes zu leisten. Er war kein Pazifist, neigte mitunter sogar zu Gewalttätigkeit. Aber es war die k.k. Armee des Habsburger Reiches, dem er nicht dienen wollte und das den Bestrebungen nach einer unabhängigen tschechischen Nation im Wege stand. Er hatte vor, nach Absolvierung seines Dienstes nach Prag zu gehen. Er wusste noch nicht, was genau er dort wollte, aber es war Prag, wohin er musste, in Prag wurde die tschechische Sache vertreten, in Prag war was los, sagte er. Er nahm die Sache mit Johannes, und wieder sagte er „die Sache“, leichter als die übrige Familie. Er wird schon auftauchen, der Kleine, sagte er, und zum Vater: „Hättest ihn halt nicht gehen lassen sollen.“

      Der Vater Quirin Czermak war ein milder Mann. Er hatte weder mit Drohungen noch mit klugen Einwänden den stürmisch-überzeugt-verblendeten Johannes daran hindern können, sich freiwillig zu melden. Er wusste auch den radikal-tschechischen Ansichten Karels nichts entgegenzusetzen. Quirin hielt sie für das Ergebnis von Agitatoren, denn er hatte Zeit seines Lebens die friedliche Koexistenz gelebt und war dafür eingestanden. Er selbst hatte gemischt österreichisch-tschechische Ahnen, wie sein Vor- und Zuname zeigten, und seine Frau Rosa, die Mutter seiner vier Kinder, war die Tochter eines tschechischen Bauern. Alle in der Familie waren – besser oder schlechter – zweisprachig, mit Vorliebe zum einen oder anderen Idiom, aber dennoch geübt in beiden. So nahm er Karels Verhalten als Zeichen der Zeit und fand Trost in der Beobachtung, dass der ideologische Riss in vielen Familien durch die Generationen ging.

      Die Unsicherheit über das Schicksal von Johannes hatte die Lichtlosigkeit in das Haus gebracht, die leiseren Schritte, die freudlosen Mahlzeiten. Die Mutter weinte, wenn sie alleine war. An manchen Sonntagen ging sie zur alten Holzkirche hinaus, die im sechzehnten Jahrhundert für Johannes den Täufer vor den Toren der Stadt erbaut worden war und einsam am Rand der Wälder lag. Nach ihm, dem Heiligen, hatten sie ihren Jüngsten getauft. Quirin glaubte, Schuld zu sein am Weinen, am Weggehenlassen, dem ganzen Unglück. Nicht, dass ihm jemand Vorwürfe gemacht hätte, aber unausgesprochen vielleicht doch. Franz


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