Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner

Gesicht im blinden Spiegel - Brita Steinwendtner


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verstehen. Er selbst war verschont geblieben: sein einziger Sohn – die anderen fünf Kinder waren Mädchen – war unversehrt zurückgekehrt vom sinnlosen Schlachten. Im Gespräch hatte sich herausgestellt, dass Brandeis am Tag zuvor in Jičín gewesen war, wo er die Krüppel gesehen und erfahren hatte, dass das Lazarett der Johanniter bald geschlossen werden sollte, jetzt, mehr als acht Wochen nach dem Unglückstag vom 3. Juli. Und Brandeis sagte: „Kannst mit mir fahren, Quirin, übermorgen muss ich nach Münchengrätz, ich hab genug Platz im Rosswagen, da kann ich dich in Jičín abladen und am Abend wieder mit nachhaus’ nehmen.“

      Jetzt konnte er nicht mehr aus.

      Jetzt musste es sein.

      Der Tischlermeister wusste, dass es in Jičín dieses private Lazarett eines Ordens gab, das im ehemaligen Schloss des Generalissimus Wallenstein untergebracht war. Das große österreichische Lazarett stand in Königgrätz, dort hatte er nachgefragt, jedoch nichts erfahren und die Verwundeten waren bald darauf nach Wien verlegt worden. Bis zum heutigen Vormittag hatte er einen Besuch in Jičín aufgeschoben – unentschuldbar war es und unerklärlich für ihn selbst. Flucht vor einer Nachricht, die er nicht hören wollte? Aber jetzt, wenn die Krankenstation geschlossen werden sollte, musste er hin.

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      Das Lazarett ist nur mehr schwach belegt.

      Die Geheilten sind entlassen.

      Viele der Moribunden sind gestorben.

      Aber er, dieser junge, unbekannte Soldat, lebt.

      Nur minutenweise ist er bei Bewusstsein.

      Der Johanniter bleibt an seinem Bett.

      Hält seine Hand.

      Die eitrigen Wunden heilen langsam.

      Der Arzt hat Zuversicht.

      Hoffnung will er nicht sagen.

      Gut wäre die Überstellung in ein Ordensspital.

      Der Johanniter möchte den Verletzten mitnehmen.

      Er hat ihn sich erwählt für das Leben.

      Es wird langsam Herbst, erzählt er ihm. Und Nebel liegen morgens über der Stadt. Du weißt ja, sagt er, dass sie zwischen drei Flüssen liegt: der Cidlina, der Mrlina und der böhmischen Iser. Es ist Frieden und die Gefangenen kommen nachhause. Die Schwalben sammeln sich. Am Wochenende wird das erste Fest nach dem Krieg gefeiert: das Fest zum Erntedank. Es hat kaum Ernte und Früchte gegeben, aber das Wenige soll gefeiert werden. Vielleicht wird sogar getanzt. Die Mädchen werden in Überzahl sein, aber es gibt hübsche Mädchen hier, sagt der Johanniter mehr zu sich selbst als zum jungen Soldaten, und da …

      da glaubt, ja, da sieht er, beugt sich näher …

      kann es sein?

      Kann es wirklich sein, dass ein schiefes kleines Lächeln in dessen Gesicht zu erkennen ist? Der Johanniter springt auf, öffnet das Fenster, „Er hört mich“, ruft er, schreit es fast in die Dunkelheit, „Er kann mich hören!“ … Vielleicht versteht er, was ich sage! Vielleicht versteht er schon längst, was ich ihm erzähle – –

      Quirin Czermak steigt aus dem Pferdegespann.

      Jičín ist ihm vertraut.

      Hier ist er zur Welt gekommen.

      Achtzehn Jahre hat er hier gelebt, bevor er auf die Walz ging, wie viele seiner Handwerkskollegen. Auf seiner Wanderschaft hat er bittere Armut gesehen in den Werkstätten von Schneidern, Tischlern und Schustern, in denen mitunter von fünf Uhr früh bis zehn Uhr nachts nur mit kurzen Pausen gearbeitet werden musste. Nicht nur einmal hat er mit einem Zweiten das Bett geteilt, um sich ein paar Kreuzer vom Kostgeld zu ersparen. Hat viel erfahren vom Elend in den Ziegeleien, den Steinbrüchen und Webereien, hat viele Neugeborene sterben sehen, viele Kinder, die nichts zu essen hatten, da der Lohn des Vaters kaum für mehr als ein Stück Brot für alle Neune reichte. Auch viel Heiterkeit und Lebensmut hat er in den Schenken und Wohnhäusern erlebt, die an größeren Orten für Handwerker und Arbeiter errichtet wurden, viel Zukunftshoffnung auch in den Fortbildungseinrichtungen der aufstrebenden sozialdemokratischen Bewegung sowie in den nationalpatriotischen tschechischen Turnvereinen der Sokoln, die später zu Zentren des Aufruhrs gegen Habsburg wurden. Bis Nürnberg, Basel und sogar bis Venedig ist er auf seiner Wanderschaft gekommen. Dann zog er weiter nach Wien und schließlich gründete er in Neustadt an der Mettau seine eigene Werkstatt. Wenige Jahre später konnte er bereits das Haus auf dem Marktplatz kaufen. Wann war das? Das war in einem anderen Leben, sagt er sich.

      Ruhelos geht Herr Czermak über den Stadtplatz von Jičín. Gitschin heißt es auf Deutsch. Hier kennt er jedes Haus. Der Platz ist jenem von Neustadt ähnlich, viereckig, mit Arkaden eingerahmt, alles nur etwas größer, repräsentativer. In der Schule haben sie von Wallenstein gelernt, der Jičín reich gemacht und sich hier in den Jahren seines Aufstiegs ein Schloss hat erbauen lassen. Etwas heruntergekommen sieht es jetzt aus. Noch kein Licht aus den Fenstern, es ist früh am Morgen. Herr Brandeis hatte noch ein Stück des Weges bis Münchengrätz vor sich, so waren sie bei Dunkelheit aufgebrochen. Auf der Fahrt hatten sie schemenhaft die Türme von Königgrätz, ein Stück weiter den Swibwald und den Hügel von Chlum gesehen.

      Der Stadtplatz belebt sich langsam.

      Der Tischlermeister zieht sich zur Pestsäule in der Mitte des Platzes zurück, wo weniger Betrieb ist als unter den Arkaden. Kurz überlegt er, ob er beim jungen Kaufmann Jakob Kraus anklopfen soll, der ihn vor kurzem um Rat für den Umbau seines Papierkontors gefragt und eine mit Intarsien verzierte Kassette für den Schmuck seiner Frau, der schönen Arzttochter Ernestine, in Auftrag gegeben hat. Jakob Kraus war eine bahnbrechende, wenngleich höchst simple Erfindung gelungen: Papiersäcke, die geklebt waren – eine Erfindung, mit der Kraus die gesamte Monarchie belieferte und sich damit ansehnlichen Reichtum erwarb.

      Aber Quirin zögert, hinüberzugehen.

      Es ist ja noch zu früh.

      Er lässt sich auf den Stufen des Säulensockels nieder. Will gerne beten zu allen Heiligen, aber er hat noch nie beten können. Er zählt die schwarzen Quadrate der Steinplatten zu seinen Füßen und die weißen Trennstreifen dazwischen. Horcht auf die Geräusche der erwachenden Stadt, beobachtet die eleganten Droschken, die Ochsenkarren, die hastenden Dienstmädchen, die Männer, die Bierfässer schleppen, und die Männer in schwarzen Anzügen und weißen Hemden.

      Die Minuten sind lahme Hunde.

      Und dann – –

      Dann sieht er den Beinamputierten.

      Mit Krücken kommt er aus den Schlossarkaden. Quirin schluckt. Beginnt zu hecheln. Sein Herz schlägt in den Schläfen. Er steht langsam auf und zieht seinen schwarzen Gehrock gerade. Warum hat er keinen Stock mitgebracht. Es schwindelt ihn. Wenn jetzt jemand um Hilfe riefe, er würde es nicht hören. Wenn jetzt Hagel fiele, er würde ihn nicht spüren, und wenn ein Zwerg mit Blattgoldhut vor ihm stünde, er würde ihn nicht sehen.

      Dann geht er zügig zu Wallensteins Schloss.

      Nähert sich dem Krüppel.

      Nein, nicht dieses Wort!

      Und fragt, ob das Lazarett schon geöffnet sei für Besucher – –

      Erst am nächsten Morgen konnte der Tischlermeister sprechen. Er saß die ganze Nacht stumm und mit leerem Blick in seinem Lehnstuhl. Zitterte. Rosa brachte eine warme Decke und heißen Tee. Von der Dreifaltigkeitskirche hörten sie das Schlagen der Viertelstunden, der halben Stunden, der Dreiviertelstunden und der ganzen Stunden.

      Um fünf hörten sie von ferne die ersten Pferdefuhrwerke, die den steilen Berg vom Tal der Mettau heraufkamen und erst lauter wurden, wenn sie durch das Horská Tor auf den Marktplatz einbogen. Rosa trug die Pendeluhr in die Küche, sie konnte das Ticken nicht ertragen. Um halb acht nickte der Tischlermeister ein und Rosa sagte zu Cäcilia, die zur Probe für das Marionettentheater musste, dass der Vater schlafe und sie noch nichts wisse. Dann waren sie wieder allein. Rosa lief zum Bäcker zwei Häuser weiter, kaufte


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