Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner

Gesicht im blinden Spiegel - Brita Steinwendtner


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und Mund waren gut geheilt. Man sah ihn häufiger auf dem Marktplatz, es schien, dass sich die Leute an ihn gewöhnt hatten und er sich an sie.

      Der Metzger Brandeis sah es mit Freude und sagte zu seiner Frau: „Ich glaub, der Czermak-Bub ist über den Berg.“

      Häufig wurde Johannes in der Bücherleihstelle Zur Slawischen Linde gesehen. Zuhause rückte er einen Tisch an das Fenster der großen Stube, von wo aus er auf das Leben des Marktplatzes blicken konnte und es mit zunehmender Neugier verfolgte. In jüngster Zeit sah ihn die Mutter mitunter sogar lachen. „Weißt du“, fragte er, „wie der Heinrich Heine den Gottvater beschreibt, als er die Welt erschaffen hat? Hör zu:

      Kaum hab ich die Welt zu schaffen begonnen,

      In einer Woche war’s abgetan.

       Doch hatt ich vorher tief ausgesonnen

      Jahrtausendlang den Schöpfungsplan.

      Das Schaffen selbst ist eitel Bewegung,

       Das stümpert sich leicht in kurzer Frist …

      ‚das stümpert sich leicht‘ – ist das nicht gut? Das bin ich, ich stümpere auch so vor mich hin, zwar nicht leicht, aber es wird schon –“, sagte Johannes und seine Mutter war überrascht vom ironischen Unterton. Mit größerer Anteilnahme las er nun täglich die Neue Freie Presse, die in der ganzen Monarchie vertrieben wurde, und am Wochenende kaufte er Národní listy, das Organ der Jungtschechen, Karels Lieblingszeitung. Sich bilden, wissen, was geschieht, sich ändern, das wollte er. Den Gedanken, noch einmal in das Gymnasium nach Braunau zurückzukehren, um die Schule abzuschließen, verwarf er. Ebenso das Angebot des Vaters, die Kunsttischlerei zu erlernen. Er war fast einundzwanzig, er scheute sich einerseits, dem Spott seiner Mitschüler ausgesetzt zu sein, andererseits, dem Vater nicht genügen zu können. So entschloss er sich, nach Breslau zu reisen, um den Johanniter um Rat und, im besten Fall, eine Arbeitsmöglichkeit zu ersuchen. Er hatte ihm seit seiner Rückkehr mehrere Briefe geschrieben, jedoch nie Antwort erhalten. Johannes deutete es als Überlastung.

      Breslau wurde eine Enttäuschung. Der Johanniter war nicht mehr im Ordensspital. Er wäre nach Johannes’ Entlassung fortgegangen, wahrscheinlich nach Köln, hieß es, vielleicht sogar nach Jerusalem. Die Anonymität der großen Stadt, die Johannes bei der denkwürdigen ersten Ausfahrt so genossen hatte und in der er jetzt heimisch zu werden hoffte, erschreckte ihn. So allein gelassen, verstörten ihn die vielen Menschen und die tausend Möglichkeiten, hier zu arbeiten und zu leben.

      Eine Nacht blieb er im Gästezimmer des Klosters. Schlaflos. Fragte sich, was er denn nun eigentlich tun wolle. Er hatte den Eindruck, dass noch jemand im Zimmer war. Keineswegs unheimlich kam es ihm vor, eher vertraut. Ich bin lange genug hier gewesen, das wird es sein, sagte er sich.

      Trotzdem zündete er eine Kerze an.

      Blieb stehen vor dem Spiegel.

      Sah sich, blickte sich an.

      Nach langer Zeit nickte er sich zu.

      Er ballte keine Faust, zerschlug nicht das Glas und rannte nicht in Panik davon. Er wusste, dass am Tor niemand auf ihn warten würde, außer er selbst.

      Johannes fuhr in die Provinz, in das Vertraute zurück. Er stand auf dem Bahnhof von Breslau, hielt der Menge stand, schob seinen Hut aus dem Gesicht. Beschloss, nicht ohne Theatralik, ab jetzt mutig zu sein und seine Lethargie auf die Schienen zu werfen.

      Er kaufte eine Karte und stieg in ein Coupé. Er fuhr dieselbe Strecke wie damals mit Franz. Mit jedem Stoß der Räder, so stellte er es sich im Rausch des Tempos vor, vernichtete er ein Zögern, ein Selbstmitleid, ein Hadern, einen Selbstmordgedanken.

      Er blickte aus dem Fenster, er kannte die Gegend nicht, er wollte sie in Zukunft kennenlernen. Jedes rhythmische Schlagen der Räder war ihm ein Ja und ein Ja.

      In Gedanken warf er die Blätter, auf die er seine Albträume geschrieben hatte, aus dem Fenster, und übergab sie der flüchtigen Welt.

      Als er nach Neustadt kam, war er voller Pläne. Er dachte daran, nach Czernowitz zu fahren, um Ferdinand zu suchen. Der Freund war tatsächlich von den Preußen gefangen genommen, nach drei Monaten jedoch entlassen worden und war zu seinen Eltern zurückgekehrt. Zunächst jedoch wollte Johannes nach Brünn, um mit Franz die Zukunft zu besprechen.

      Es kam anders.

      Das Rauschrot der Träume erlosch.

      Zwei alltägliche Erlebnisse machten zunichte, was so mühsam erkämpft war. Schneller als gedacht und tiefer als befürchtet.

      An einem warmen Nachmittag schlenderte Johannes zwischen den ergrünenden Bäumen über die Kohenského-Chaussee. Eine Schar Kinder kam ihm entgegen. Schon von weitem riefen sie: „Das Krüpperl kommt, das Krüpperl kommt, das Krüpperl ohne Kinn und Kauen“, sie lachten und liefen kichernd davon. Da packte ihn die Wut, er rannte ihnen nach, wartet nur, schrie er, drohte, hatte sie mit erhobenem Stock fast eingeholt, Passanten blieben erschrocken stehen, ein Mann hielt ihn grob auf – als er die Verzweiflung im entstellten Gesicht des Verfolgers sah, hielt er inne und ließ los.

      Kurze Zeit später traf er an einem Sonntagmorgen einen Kameraden aus der Musikschule, mit dem er in der Kapelle der Nationalgarde gespielt hatte. Filip war in großer Montur, trug seine Posaune unter dem Arm und war auf dem Weg zum Hochamt in der Dreifaltigkeitskirche, in der an diesem Tag mit großem Orchester Primiz für einen jungen Neustädter Priester gefeiert werden sollte. Allein dieser Anblick zerschnitt die Fäden, mit denen sich Johannes sein kunstvolles Überlebensnetz geknüpft hatte. Filip war bester Laune, sein rundes Gesicht glänzte, er schwitzte in der Tracht, stieß Johannes mehrmals übermütig an, plapperte vor sich hin, erzählte aus seinem Leben und seiner erfolgreichen Posaunerei und fragte dann: „Weißt du eigentlich, dass Agáta geheiratet hat? Sie ist nach Troppau gezogen, weißt eh, der Hauptstadt vom mickrigen Restgebiet Österreichisch-Schlesien, dort lebt sie jetzt – bist ihr ja einmal nachgestiegen, der zarten Geigerin Agáta, oder nicht? Na ja, jetzt wär das alles sowieso vorbei für dich …“ Und Filip stieß Johannes nochmals freundschaftlich auf die Brust, sagte noch „Nichts für ungut, tut mir leid, entschuldige“, und ging seines Weges zum Kirchentor.

      Johannes war erstarrt.

      Danach verstummte er.

      Er war ein Krüppel.

      Ein Krüppel würde er bleiben.

      Unnütz, ungeliebt, eine Spottfigur.

      Nach wenigen Tagen sah man ihn hinunter an das schattige Ufer der Mettau gehen. Er klopfte beim Schmied an, bei Herrn Vitus Kriwanek.

      Sie sprachen lange.

      Kurz darauf fing Johannes eine Schmiedelehre an.

      Er wollte in die Finsternis.

      In das Ungesehene.

      Wollte die Fertigkeit für Feinarbeiten erlernen.

      Für schmiedeeiserne Grabkreuze.

      Für die Toten von Chlum.

      Für Bohumil und die Namenlosen.

      Gegen alle Einwände von Eltern und Geschwistern blieb Johannes bei seinem Entschluss, starrköpfig wie 1866. Zum Neujahrsfest starb der Vater. Jetzt, als es zu Ende ging, konnten sie reden und der Sohn bat um Verzeihung. Es wäre die falsche Entscheidung gewesen damals, sagte Johannes, diesmal jedoch wäre es die richtige.

      „Du bist nicht schuld an meinem Weggehen gewesen, du hättest mich nicht halten können. Die Phrasen der Kriegshetzer sind nicht schuld, ich hätte sie nicht glauben müssen. Ich allein bin’s, ich war unwissend, selbstherrlich und ehrsüchtig – oder wir alle sind schuldig, weil wir es seit ewig nicht schaffen, Frieden zu machen.“

      „Du redest plötzlich so sicher“, sagte der Vater, „wie kommt das?“

      „Ich hab viel an den Johanniter gedacht in der letzten Zeit. Manchmal hab ich das Gefühl, dass er in meiner Nähe ist. Du hast ihn ja gekannt, er war so ungreifbar. Im Morgengrauen,


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