Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner

Gesicht im blinden Spiegel - Brita Steinwendtner


Скачать книгу
der Oder, die Dörfer, Felder, Wälder und Wege, ein Schwalbenflug, eine Halluzination und das Vorspiel von Mozarts Don Giovanni.

      Es war Abend, als sie in Neustadt ankamen. Die Mettau lag im Dunkel, der Marktplatz im Licht der Gaslaternen. Der Vater empfing sie unter dem Tor des Hauses mit der Nr. 1223 und dem Lamm als Zeichen. Cäcilia bekam feuchte Augen, als sie Johannes sah, umarmte ihn stürmisch und barg ihren Kopf an seiner Schulter. Er roch ihr Haar, ihre Haut. Karel war in Prag geblieben, er musste zu einer Versammlung, schickte aber herzliche Grüße. Die Mutter hatte ein Festmahl bereitet und Reseden auf den Tisch gestellt. Der Rinderbraten und die Serviettenknödel waren zart, die Kerzen brannten, das Gespräch stockte. Über der Dreifaltigkeit stand der Sichelmond.

      Zuhause.

      Johannes hielt sich viel in der Werkstatt des Vaters auf. Er machte kleine Handreichungen, kehrte die Späne von Hobel und grober Schnitzerei in einen Korb und polierte die feineren Schnitzmesser, die nicht mehr in Gebrauch waren. Er ließ sich Farben und Wirkungsweise der verschiedenen Beizen und Lacke erklären und die unterschiedliche Seele von Buchen-, Eichen-, Linden- und Birnenholz. Es war ein neues Feld für Johannes und das Handfeste daran gefiel ihm, es beruhigte ihn. Vater und Sohn waren sich einig im Schweigen und es entstand eine Nähe, die es früher nicht gegeben hatte. Manchmal saßen sie im Gärtlein an der Werkstattmauer, die noch die Wärme des Tages gespeichert hatte. Über Zaun und Wehrstraße hinweg schauten sie in das Grün der jenseits der Mettau liegenden Hochflächen. Wenn die Mutter eine Erfrischung brachte und sie die beiden still nebeneinandersitzen sah, flog etwas Helles über ihr Gesicht. Die Männer prosteten sich zu, zitternd der Ältere. Der Geselle für die Großaufträge arbeitete nach den Anweisungen seines Meisters selbständig in der Werkstatt am Ufer der Mettau, den zweiten Gesellen hatte Quirin Czermak schweren Herzens entlassen müssen. Den Lehrbuben konnte er noch behalten. Dem Vater war der steile Weg in das Tal zu beschwerlich geworden, so ging Johannes oft mehrmals am Tag als Bote hin und her. Er blieb eine Weile am Ufer des Wassers, sah den Spiegelungen des Himmels zu und zählte die vorübertreibenden Blätter.

      An der Wehranlage des Flusses lag unmittelbar neben dem Besitz des Vaters der Betrieb eines Schmieds. Herr Vitus Kriwanek stand manchmal vor seinen lauten, großräumigen Werkstätten, rauchte eine Pfeife und hob eine Hand zum Gruß. Mit der Zeit kamen sie ins Gespräch. Herr Kriwanek war einer der wenigen, der nie nach dem Befinden von Johannes fragte, ihm offen in das Gesicht blickte und keinerlei Anzeichen von Überraschung oder Abwehr zeigte. Johannes wusste, dass er seine beiden Söhne in der Schlacht von Königgrätz verloren hatte. Der eine starb bereits bei den ersten Kampfhandlungen um Sadowa, der andere gegen Abend auf dem Hügel von Chlum. Nie sprachen sie darüber. Aber Johannes hatte ein Gefühl des Aufgenommenseins und war dankbar dafür.

      Wieder sammelten sich die Schwalben, fielen die Kastanien, ließ das warme Licht der Septembersonne die Erde erglühen. Auf dem Erntedankfest wurde getanzt, die Mädchen waren hübsch und hatten geflochtene Blumenkränze im Haar. Agáta war nicht unter ihnen. Johannes stand am Fenster im ersten Stock. Er sah das fröhliche Treiben auf dem Marktplatz unter sich und war bedacht darauf, nicht gesehen zu werden. Ein Mann schrie etwas in ein trichterförmiges Sprachrohr, der Tanz stockte, ein Trompetentrio und ein Trommelwirbel schmetterten ein musikalisches Hurra und der Tanz begann von neuem, schneller, wilder.

      Wie viele Jahre war es her, dass ihm der Johanniter im Lazarett des Wallenstein’schen Schlosses vom Erntedankfest auf dem Stadtplatz von Jičín erzählt und er es mehr träumend als wachend wahrgenommen hatte? Drei? Vier Jahre?

      Die Mutter schlug ihr Akkordeon in ein Tuch ein und stellte es auf den Dachboden. Die Ventiltrompete hatte sie längst verräumt. Mit großer Natürlichkeit und Zurückhaltung umsorgte sie Johannes, ohne ihn zu demütigen. Da sie ein Bauernkind war, kannte sie den Umgang mit verletztem Leben. Heilen braucht Geduld, sagte sie zu ihrem Mann, und tat, wovon sie glaubte, dass es gut war. Manchmal, wenn sie den langen Weg nach Rezek zum Hof des Bruders ging – die Eltern lebten nicht mehr – nahm sie Johannes mit. Mit Verwunderung hörte er dieser sonst stillen Frau zu, wie sie ihm lebhaft über die Beschaffenheit von Ackererde, Baumrinde oder Vogelkot zu erzählen wusste. Am Hof selbst half er beim Äpfelklauben und blieb eine Weile bei den Kühen auf der Weide. Beobachtete ihr unermüdliches Fressen, das zungenlange Abrupfen der Grasbüschel und das stoisch verinnerlichte Wiederkäuen. Sie sahen ihn nicht an. Wenn Regen bevorstand, zogen die Tiere alle in dieselbe Richtung, langsam und fressend über die weite Hochfläche hin. An klaren Tagen sah man bis zu den fernen Waldrücken des Adlergebirges.

      Königgrätz. Mit dem Zweispänner waren Vater und Sohn unterwegs, um in der Soukenická neue Ware einzukaufen. Quirin wählte mit Bedacht Beizen, Holzleim und Pauspapier für die Arabeskenverzierungen. Er würde es kaum mehr brauchen. Seine Hände zitterten und die technischen sowie chemischen Entwicklungen überrollten rasant sein Handwerk. Johannes sah sich mittlerweile in der Stadt um. In aller Pracht stand sie vor seinen Augen, goldne Zier, mächtige Kirchtürme und Selbstbewusstsein demonstrierende Bürgerhäuser. Er sah das lockende Leben eines blühenden Gemeinwesens. Im Kopf hatte er andere Bilder. Er dachte an die in den Wassermassen der geöffneten Schleusen Ertrunkenen des 3. Juli und wünschte sich in ihre Gesellschaft.

      Johannes, du musst wieder mehr unter Menschen gehen –. Es fiel ihm schwer. Die Arkaden des Marktplatzes von Neustadt boten Schutz vor Schnee, Unwetter und Sommerhitze, aber nicht vor dichtgedrängten Menschen. Er gab sich Mühe. Gab Antwort, wenn man ihn fragte, ihm Mitleid und Zuneigung zeigte, ihn einlud, doch einmal vorbeizukommen. Durchreisende starrten ihn an. Kinder tuschelten. Mit dem einen oder anderen Freund von früher kam er ins Gespräch, sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Sie waren jetzt um die zwanzig und das Leben hatte ihnen gegensätzliche Erfahrungen zugedacht. Mit ihnen zu reden, war Qual, er hatte keinen Anteil an guten Positionen, Plänen, Liebschaften und der Lust am Dasein. Den Mädchen ging er aus dem Weg. In der Schenke trank er Bier, beim Bäcker kaufte er Kaisersemmeln und beim Metzger Brandeis bestellte er Rinderbraten für den Sonntag.

      „Dass Gott erbarm“, sagte Herr Brandeis zu seiner Frau, „der arme Teufel“.

      Im März erlitt Johannes einen schweren Rückfall. Die Narben entzündeten sich und begannen wieder zu eitern. Der Hausarzt stieß an seine Grenzen und wies ihn in das Spital der Barmherzigen Brüder ein, ein anderes gab es nicht in Neustadt. Mehrere Wochen blieb Johannes bei den Barmherzigen.

      In der Klosterbibliothek war er stiller Gast.

      Nachts kam die Musik, schlich sich ein, kam von irgendwo her, aus dem Bauch, dem Kopf, dem Atem. Dem Traum. Nachts kamen sie, die Melodien, die er geliebt hatte, Lieder, Ouvertüren, Märsche, er brauchte kein Orchester, er brauchte nur seine goldne Ventiltrompete, er selbst würde auf dem Turm des Schlosses und Agáta allein unten auf dem Marktplatz stehen, sie würde zu ihm heraufschauen, Leute würden sich um sie scharen und alle würden den Blick zu ihm, dem Trompeter, erheben, es gäbe keine Grammatik mehr und keine Gräber, nur Girlanden über seiner Stirn.

      Im Klostergarten half er gern, als es ihm besser ging, und freundete sich mit Sempronius an, einem alten Pater, der ihm kichernd von früher erzählte, als ob die Geschichte eine flotte Polka wäre und alles Unglück flüchtig wie ein Tanzschritt. Erzählte von Festen und Bränden, Kuhhandel und Kriegen und von Albrecht von Wallenstein, der einst kurze Zeit der Herr von Neustadt war, als man ihn noch ehrte für Siege, Macht und Reichtum. Wallenstein, der ermordet wurde in Eger. Und einer seiner Meuchelmörder, der Ire Walter Leslie, wurde in Wien sofort hoch geehrt, die reichste Beute jedoch war, so Sempronius weiter, „Na, was glaubst du? Unsere Stadt! Samt Schloss und allen dazugehörenden Dörfern und Landbesitzungen – so ist der Mörder mit dem ehemaligen Besitz des Ermordeten belohnt worden!“

      Als Johannes nach seinem Spitalsaufenthalt in das Elternhaus zurückkehrte, gab es manche Veränderung. Franz wurde nach Brünn in die dortige Zentralstelle der Habsburgischen Eisenbahnen versetzt und Karel machte in Prag in der tschechischen Widerstandsbewegung Karriere. Cäcilia feierte große Hochzeit mit dem Gemeindevorsteher von Königinhof, einem angesehenen Mann, sie freute sich auf ein angenehmes Leben in der schönen Stadt an der Elbe. Niemand in der Familie verstand Cäcilias Wahl, denn Hermann war ein roher Militarist, ein Verächter alles Tschechischen und vielfach aktiv in deutschnationalen Vereinigungen.

      Johannes


Скачать книгу