Gesicht im blinden Spiegel. Brita Steinwendtner
Worte. Sagte, dass er an der Pforte Johannes beschrieben und gefragt hätte, ob ein junger Mann, der dieser Beschreibung ähnlich wäre, hier läge. Die Nonne hätte einen Mann geholt, der sich als Ritter des Johanniterordens vorstellte. Dieser hätte sofort vermutet, dass einer seiner Patienten der Gesuchte wäre. Als sie am Ende eines langen Ganges vor einer Tür angekommen wären, hätte der Ritter ihn zurückgehalten. Hätte ihn beim Arm genommen und ihn fragend, forschend angeblickt. Quirin hätte genickt.
Ja, es wäre Johannes gewesen.
Dieses Stück Mensch, das er, der eigene Vater, erst nach längerem Hinsehen erkannt hätte. Er könne nicht beschreiben, was er gesehen hätte. Er könne nur sagen: das Gesicht. Der Johanniter hätte erzählt, wie er Johannes am Tag nach der Schlacht auf dem Totenfeld des Hügels von Chlum gefunden, ihn in das Lazarett gebracht und ihn bis heute gepflegt hätte.
Der Ritter hätte ihn nochmals am Arm genommen.
Eine Weile gewartet, bis er sagte:
„Er wird leben.“
Später hätte der Johanniter gefragt, ob der Vater die Einwilligung gäbe, den Sohn mit nach Breslau zu nehmen, wo im Ordensspital gute Ärzte zur Verfügung stünden und der Verwundete die beste Pflege fände. Das Lazarett in Jičín würde in drei Tagen geschlossen werden. Er, Quirin, hätte zugestimmt.
Der Tischlermeister saß totenblass im Lehnstuhl und wusste nicht, ob das Folgende wirklich gesprochen oder nur gedacht wurde.
Was hätten wir denn mit ihm tun sollen.
Johannes hat mich nicht erkannt.
Er wäre uns gestorben.
Dann wären wir wenigstens bei ihm gewesen –
Wenn er sterben muss, sagte Rosa.
Aber vielleicht … im Spital … wer weiß –
Ja, vielleicht hast du recht …
Dann umarmte sie ihn.
Sie spürte sein Zittern.
Das ist ihm geblieben.
Als Johannes erwachte, war er Schmerz. Er suchte ihn. Fingerte über den Kopf. Kam der Schmerz vom Gesicht? Der rechten Wange, den Lippen? Da war ein Fehlen. Ein holperndes Tasten wie über einen dreckigen, aufgewühlten Hohlweg. Nein, das war nicht er. Nein. Nicht seine Hand. Nicht sein Gesicht. Der Schmerz gehörte ihm, aber das Gesicht gehörte ihm nicht. Es musste ein Fremder sein. War das Traben von Pferden zu hören? Die Nacht kam, die Dämmerung, wieder die Nacht. Das ging so hin. Wie lange? Gab es Tage im Taumelgefühl dieser Reise? Denn eine Reise war es, schien ihm. Als ob ihn jemand an einer dunkelroten Wand vorüberzöge. 33, 33. Die Zahl spukte durch seinen Kopf. 33, er wusste nicht, was dies bedeuten sollte. Gab es eine Welt da draußen hinter den Vorhängen des Verschlags, in dem er dahintrieb? Jemand war bei ihm, dessen Stimme er kannte. Wie kam es, dass er eine Wärme spürte, wenn er sie hörte?
Die Stimme sagte: Du bist zurück, Johannes.
Im Spital des Johanniterordens in Breslau blieb Johannes fast zwei Jahre. Er wurde drei Mal operiert. Es waren zwei junge Ärzte am Werk, die in Berlin an der Charité ausgebildet worden waren. Später, als der neue, der größte aller bisherigen Kriege kam, wurden sie zu gesuchten Spezialisten. Nach der letzten Operation hatte Johannes’ Gesicht ein Aussehen, das man als Menschengesicht bezeichnen konnte.
Wie er diese Jahre überstand, ist nicht zu sagen.
Wie er in das Leben zurückfand, ebenso nicht.
Der Vater kam alle drei Monate.
Es war eine lange Reise von Neustadt nach Breslau.
Ein paar Mal war die Mutter mit.
Sie rang um Fassung.
Aber es war ihr Kind.
Und es lebte.
Auch Franz kam und sprach dem kleinen Bruder Mut zu. Er hatte in den Straßen von Wien Schlimmeres gesehen. Er war mit der neuen Kaiser-Ferdinands-Nordbahn gekommen, die von Wien nach Krakau führte, völkerverbindend und zugleich wirtschaftlich notwendig zu den ergiebigen Kohle-, Eisen- und Salzlagern der Monarchie. Franz berichtete dem Vater über alle Einzelheiten der Strecke, an der er mehrmals umgestiegen war, wie großartig diese neue Erfindung wäre, eine Revolution, sagte er, das wird ein ganzes Zeitalter verändern! Von Wien nach Laibach sei die gesamte Südbahn schon fertig, sogar die Bergstrecke über den Semmering, eine technische und europäische Großtat! Bis in die letzten Dörfer der Monarchie, bis Galizien und Lodomerien werden wir Schienen legen und sie an die große Welt anschließen, an den Fortschritt, du wirst sehen, Vater, wie groß …, und Franz unterbrach sich, als er sah, wie abwesend der Vater aus dem Fenster ihres Breslauer Hotels blickte. Er erschrak über sich selbst, wie konnte er so taktlos sein und so begeistert von einer hellen Zukunft sprechen, die der Jüngste so nicht haben würde.
Quirin Czermak sprach mit dem Johanniter und dankte ihm. Tat es bei jedem Besuch, bei dem er die langsame Genesung seines Sohnes beobachten konnte. Dankte ihm mit wachsender Intensität, wollte ihn beschenken – Geld wollte er nicht anbieten –, ihm Gutes tun, aber der Mann sagte nur:
Ich liebe Ihren Sohn, ich tue es um seines Lebens willen.
Von Breslau, der schönen Stadt zwischen vielen Flussläufen, Kanälen, Brücken und Kirchen, der fürstlichen, herzoglichen, und seit mehr als einem Jahrhundert königlich-preußischen Stadt mit den herrlichen Plätzen und reichen Bürgerhäusern sowie den Fabriken der explodierenden Industrialisierung sah Johannes nichts. Er war zu schwach und die Zeit zwischen den Operationen zu kurz, als dass er die schützenden Mauern des Ordensspitals hätte verlassen können oder wollen.
Er schlich die Gänge des Hauses entlang. Die Schwestern grüßten freundlich und lächelten ihn an, sie kannten ihn schon gut. Nachts spielte er auf einer imaginären Trompete ins Nichts. Er spielte mit schwachem Atem und sperrigen Fingern den Trompetenpart aus barocken Konzerten, am liebsten den Solopart aus Antonio Vivaldis Concerto für Trompete und Streichorchester in D-Dur, und spielte, wachte, träumte, weinte, Wut und warum …
In der Abteilung, in der Johannes lag, gab es keine Spiegel und keine Bilder. Einmal hatte er sich verirrt und war in den Trakt der Quarantänepatienten gekommen. Da sah er im Glas eines Heiligenbildes zum ersten Mal sein Gesicht. Lange stand er da, ungläubig.
Der Schock nahm ihm den Atem. Er sah sich erstarrt an. Führte seine Hand über die versehrte rechte Narbenwange, sah das deformierte Kinn, betastete seine Lippen. Schaute lange dieses Bild an, aus dem ihn ein Mensch anblickte, den er nicht kannte. Dann ballte er eine Faust und zerschlug das Glas. Er schrie und schreiend rannte er weg, eine Blutspur hinterlassend, irrte panisch durch das Ordenshaus, suchte einen Ausgang, weg, nur weg von diesem Gesicht, weg von der Wahrheit und in den Tod … Als er schließlich ein offenes Tor fand und immer noch schreiend ins Freie wollte, rannte er in die Arme des Johanniters.
Johannes brauchte Wochen, bis er nicht mehr an Selbstmord dachte. Einer der Ärzte kam und brachte Tropfen zur Beruhigung. Er versuchte, ihm Mut zu machen und bemühte sich. Nach der Operation, die noch vor ihm liege, sagte er, wird es besser sein.
Es wurde besser.
Johannes hatte wieder einen Mund.
Die Wunden heilten gut.
Die Narbenschmerzen waren erträglich.
Schwester Łucja, eine langgediente, freundliche Ordensschwester, die schwer an ihrem gedrungenen Körper trug, hatte es sich in den Kopf gesetzt – oder war sie beauftragt worden? – ihn wieder das Sprechen zu lehren. Vor allem die Labiallaute b, p und m, ebenso das schwierige f und w. Sie hatte große Geduld und übte mit ihm das Konjugieren lateinischer Verben wie amo, amas, amat, amamus, amatis, amant, amo, amas…, ich liebe, du liebst …, amabo, amabis…, ich werde lieben, du wirst lieben… und übte deutsche Nomina: Peter und Paul, Wiese, Weide, Wald und Wolf … Johannes entwickelte nach anfänglichem Widerstand Freude an diesen Übungen, er merkte den Fortschritt,