Einmal morden ist nicht genug. Irene Scharenberg

Einmal morden ist nicht genug - Irene Scharenberg


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Die Jacke der Frau, die kaum einen halben Meter an ihm vorbeilief, stand weit offen und gab den Blick auf eine enorme Oberweite und einen extrem ausgeschnittenen Pullover frei. Als Ausgleich zu der nackten Haut, dem kurzen Rock und den dünnen Seidenstrümpfen trug sie dicke Winterstiefel. Hanno lächelte sie durch die Scheibe an, aber die Tusse reagierte nicht, obwohl sie ihn anscheinend bemerkt hatte. Nun, auf den Bahamas oder einer anderen Insel in der Karibik würde es sicher jede Menge Mädels geben, die sich gerne von ihm einladen ließen.

      Mit einer trotzigen Miene nahm er den Prospekt in die Hand und blätterte darin herum. Die meisten Hotels gehörten zu einer Preisklasse, die er sich bisher niemals hatte leisten können. Er hatte nicht einmal gewagt, von einem Aufenthalt in ihnen zu träumen. Als der Kellner das Filetto Mare & Monte servierte, hatte er drei Seiten eingeknickt. Auf ihnen wurde für hochpreisige Unterkünfte geworben, die nun durchaus für ihn infrage kamen.

      Kapitel 11

      Pielkötter fühlte sich leicht benommen, was sicher nicht nur an zwei Gläsern Bier und dem Whisky nach dem Essen lag. Im Moment strömte einfach zu viel auf ihn ein. Heute Morgen noch war er auf Norderney gewesen und nun saß er in seinem Reihenhaus im Duisburger Norden mit seiner Familie und Jan Hendriks neuem Freund zusammen. Mühsam versuchte er, ein Gähnen zu unterdrücken. Er hatte sich natürlich sehr über die hübsche Collage aus Fotografien mit Motiven vom Hafen, Tiger & Turtle und Landschaftspark seines Sohns gefreut, die ihn an seiner Haustür empfangen hatte, besonders über den Titel »Herzlich willkommen in Duisburg«. Auch hatte ihn sehr gerührt, dass Marianne sein Lieblingsessen, Semmelknödel mit Rotkohl, gekocht hatte. Inzwischen jedoch war er einfach nur müde. Zudem zerrte Thilo Baumgartner, Jan Hendriks neuer Lebenspartner an seinen Nerven. Das lag nicht nur daran, dass er heute Abend einfach lieber nur vertraute Menschen um sich gehabt hätte, sondern an dessen etwas unsensibler Art. Schon nach wenigen Minuten hatte er gut verstanden, warum Marianne sich nach dem ersten Treffen ziemlich schockiert über Thilo geäußert hatte. Sein Sohn hatte bereits mehrere Male signalisiert, dass sie besser aufbrechen sollten, aber Baumgartner hatte überhaupt nicht darauf reagiert.

      »Ich bin so froh, dass sich alles zum Guten gewendet hat«, erklärte Jan Hendrik zum zweiten Mal an diesem Abend. »Mutter hat die OP prima überstanden, und für dich gibt es hoffnungsvolle Perspektiven, dass du deine Arbeit wieder aufnehmen kannst«, wandte er sich direkt an ihn. »Und jetzt habt ihr etwas Ruhe verdient und ...«

      Baumgartner ließ ihn nicht ausreden. »Ja, darauf trinken wir«, posaunte er. Ehe jemand etwas erwidern konnte, ergriff er die Whiskyflasche und schickte sich an, alle Gläser zu füllen.

      »Für mich bitte nicht, ich bin jetzt schon etwas hinüber«, protestierte Pielkötter und warf ihm einen missbilligenden Blick zu.

      »Und ich muss noch fahren«, erklärte Jan Hendrik. »Außerdem sollten wir jetzt endlich gehen.«

      »Aber Sie geben mir doch wohl keinen Korb?« Thilo fixierte Marianne.

      »Ich mag keinen Whisky«, antwortete sie, und Pielkötter glaubte herauszuhören, dass sie Thilos Art nicht mochte.

      Wie anders dagegen war Jan Hendriks erster Lebenspartner Sebastian gewesen. Bei ihren gemeinsamen Treffen hatte er sich wohlgefühlt, nachdem er seine anfänglichen Vorurteile endlich abgebaut hatte. Marianne hatte Sebastian ja von Anfang an gemocht. Warum nur hatte er sterben müssen, weil er sich für eine gute Sache eingesetzt hatte, während dieser Fatzke ...?

      »Ich habe einen sehr anstrengenden Tag hinter mir und ich muss jetzt ins Bett«, verkündete Pielkötter. »Es tut mir leid, aber ihr müsst den restlichen Abend ohne mich verbringen.« Nachdem er das ausgesprochen hatte, fühlte er sich hin und her gerissen. Einerseits empfand er es als total richtig, diesen aufdringlichen Thilo in die Schranken zu weisen, andererseits hätte er sich einen netteren Abschied von Marianne und Jan Hendrik gewünscht. Vielleicht hätte er seine Frau sogar noch dazu überreden können, diese erste Nacht im eigenen Bett gemeinsam zu verbringen.

      »Wir wollten gerade aufbrechen«, erklärte Jan Hendrik, wobei er sich einen wütenden Blick seines Partners einfing.

      »Und ich schließe mich an«, sagte Marianne.

      Mist, dachte Pielkötter. Den Ausklang dieses Abends hatte er sich wirklich anders vorgestellt. Okay, er konnte gut nachvollziehen, warum sein Sohn sich aus Selbstschutz mit einem Typen abgab, der so gar keine Ähnlichkeit mit seinem ermordeten Lebenspartner hatte. Wahrscheinlich hatte er unbewusst Angst, sich mit jemanden einzulassen, der ihm genauso weh tun konnte wie Sebastian. Pielkötter sah allerdings nicht ein, warum er darunter leiden sollte.

      Kapitel 12

      Max keuchte. Seine Lungen brannten, seine Beine schmerzten, aber zumindest war sein Kopf plötzlich seltsam klar. Während er nach der brenzligen Situation an dem LKW zunächst nur versucht hatte, aus der Gefahrenzone zu kommen, überlegte er nun, wohin er fliehen sollte. Nein, eigentlich kamen ihm im Moment nur die Orte in den Sinn, die er auf gar keinen Fall aufsuchen konnte. Bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten, fiel definitiv aus. Zu schnell würde er sich bei seiner Aussage in Widersprüche verwickeln und seine Bewährung aufs Spiel setzen. Möglicherweise schaffte es der angesehene Hachlinger sogar, ihm den Mord in die Schuhe zu schieben. Max hatte wahrlich nicht die geringste Lust, erneut in den Knast zu wandern. Seine Wohnung war ebenfalls tabu. Schließlich kannte Hachlinger seine Adresse und würde ihn genau dort vermuten. Wahrscheinlich setzte er inzwischen die Suche nach ihm mit dem Auto fort. Für einen kurzen Augenblick zog Max in Erwägung, Hanno um Hilfe zu bitten. Aber konnte er seinem Kumpel wirklich trauen? Was, wenn ihm der mit Scheinen winkende Chef näherstand als ein Freund, mit dem er gelegentlich einen gemütlichen Bierabend verbrachte? Er wusste nicht, ob ihre Freundschaft so tief war, dass Hanno unter allen Umständen loyal zu ihm stehen würde. Vielleicht würde ihm irgendwann nichts übrigbleiben, als ihn um Rat oder sogar Hilfe zu bitten. Zuerst aber musste er ein Versteck finden, in dem er in aller Ruhe nachdenken konnte.

      Wohin nur sollte er sich wenden? Verwandte besaß er nicht und ehemaligen Knastkumpanen wollte er lieber nicht trauen. Max schnaufte. Er musste kurz ausruhen. Außer Atem hockte er sich hinter einen Busch, stützte den Kopf auf seine Hände und grübelte eine Weile. Endlich kam ihm eine Idee. Die Jannings, seine Nachbarn, besaßen eine Laube in ihrem Schrebergarten. Zweimal war er dort gewesen. Einmal hatten sie Fraukes fünfzigsten Geburtstag dort gefeiert und vor gut einem Monat hatten sie ihn zum Grillen eingeladen, weil er ihnen beim Umzug ihrer Tochter geholfen hatte. Sie waren gemeinsam dort angekommen und Frauke Janning hatte den Schlüssel zu der Hütte in einem Plastikbeutel unter einem der Blumentöpfe hervorgeholt.

      Eigentlich war die Gartenlaube als Versteck ideal. Niemand würde ihn dort vermuten. Außerdem machten die Jannings gerade Urlaub in Spanien. Dass ihre Tochter die Laube nutzte, hielt er für unwahrscheinlich. Und selbst wenn sie ihn dort überraschen würde, konnte er ihr immer noch irgendeine Geschichte auftischen und dann verschwinden. Die Chancen, bei einer Begegnung mit der Nachbarstochter heil davonzukommen, standen allemal besser als bei einem Zusammentreffen mit Hachlinger. Dumm nur, dass die Kleingartenanlage in derselben Richtung lag wie sein Zuhause, wo Hachlinger ihn wahrscheinlich vermutete und vielleicht versuchen würde, ihn abzufangen. Aber eine andere Lösung fiel ihm nicht ein.

      Ein Hund im nahen Tierschutzzentrum Duisburg begann zu jaulen. Seufzend erhob er sich. Es wurde höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Am sichersten erschien es ihm, einen Umweg einzulegen und am Rhein entlangzulaufen.

      Inzwischen hatte Max ein gutes Stück des Weges in Richtung Rhein zurückgelegt. Er schaute sich immer wieder um, aber er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Niemand verfolgte ihn. Plötzlich hörte er ein Motorengeräusch. Ein Wagen schien sich mit hoher Geschwindigkeit zu nähern. Obwohl das Fahrzeug noch weit entfernt war, begannen seine Knie zu zittern. Max hechtete in den nächsten Hauseingang. Zuerst lehnte er sich an die Haustür, dann bückte er sich, als wolle er das Schlüsselloch suchen. Mit einem Mal flammte Licht auf. Offensichtlich reagierte nun der Bewegungsmelder. Scheiße, warum hatte er diesen Hauseingang gewählt? Das Motorengeräusch näherte sich unaufhaltsam. Er wagte nicht, auf die Straße zu sehen. Schweiß stand auf seiner Stirn. Als das Auto nur noch wenige Meter entfernt war, tropfte er ihm ins linke Auge. Es brannte, aber Max


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