Pandemie. Группа авторов

Pandemie - Группа авторов


Скачать книгу
geschweige denn, Nachforschungen anstellen. Auch in ihrer Verwandtschaft oder unter ihren Freunden kam ihr niemand in den Sinn, den sie hätte um Hilfe bitten können. Ihre Lehrer hätten sie womöglich gleich in eine Zwangsjacke stecken lassen. Einfacher schien es ihr, den Gedanken erst gar nicht zuzulassen. Wenn es wahr wäre, hätte man nicht längst davon gehört? Gäbe es nicht Untersuchungen? Müssten nicht alle Reporter hinter dieser Story her sein? Wahrscheinlich handelte es sich wirklich nur um ein Gerücht. Sie blickt die Alte an und sah sie lächeln. »Was?«, fragte sie.

      »Ich weiß genau, was du gerade gedacht hast. Es ist bequemer, nicht darüber nachzudenken, nicht wahr?«

      Lenina fühlte sich ertappt. Konnte die alte Frau so einfach in ihren Zügen lesen? Was musste sie dann nur von ihr halten? Garantiert hielt sie sie für eine kleine dumme Göre.

      »Mach dir keinen Kopf. Du handelst nicht anders als 99 Prozent der Bevölkerung. Wenn man den Kopf in den Sand steckt, sieht man nichts. Wenn man nichts sieht, besteht kein Handlungsbedarf. Viel angenehmer, als aktiv zu werden, sich womöglich selbst in Gefahr zu begeben …«

      »Wieso in Gefahr begeben?«

      »Du denkst nicht im Ernst, dass die Politik untätig zusehen würde, wenn Geheimnisse aufgedeckt werden? Wenn Unruhe gestiftet würde?«

      »Wenn die Zeitungen darüber berichten …«

      »Dazu müsste irgendjemand denen erst einmal eine Story liefern, die hieb- und stichfest ist. Wenn das der Fall wäre, könnte vielleicht ein Umdenken stattfinden, aber eine Garantie gibt es nicht. Ich glaube, viele Leute ahnen, was in diesem und anderen Ländern tagtäglich passiert, aber sie schieben es von sich. Es betrifft sie nicht. Ihnen geht es gut, was sollen sie sich mit den Problemen anderer belasten?«

      Lenina wusste, dass die Alte recht hatte. Sie malte sich aus, wie sie ihren Eltern von den Gerüchten berichten würde und ahnte, dass diese es als dummes Gerede abtun würden, ohne einen echten Gedanken daran zu verschwenden, ob es stimmen könnte. Konnte eine ganze Gesellschaft so ignorant sein? War sie es nicht selbst gewesen? Hatte sie sich nicht angestellt wie ein unmündiges Kind? Sich blind auf ihre Eltern zu verlassen, ohne einen Credit nur im Gefolge zu existieren, sich eine heile Welt vorgaukeln, all das sprach dafür. Dabei war sie fünfzehn Jahre alt, in der Pubertät und nicht dumm. Sie ging auf eins der besten Gymnasien und wurde angehalten zu philosophieren. Ja, abstrakte Gedanken durfte, nein sollte, sie sich machen, über ein Leben im Weltall nachdenken, sowohl Klassiker als auch moderne Literatur lesen, nur über die Realität, die sie umgab, hatte sie sich nie einen Kopf gemacht. Sie hatte ihre Welt, ihr Dasein, einfach als gegeben hingenommen. Jeder tat es! Konnte sie das als Entschuldigung gelten lassen? Nein, denn dann wären die Mitläufer im Naziregime auch nicht schuldig gewesen. Es gab keine Entschuldigung für ein »Nicht-sehen-wollen«. Sie war drauf und dran, nach einem Bier zu fragen, denn es schien ihr einfacher, die Erkenntnisse des Tages benebelt zu ertragen, aber das würde die Gefahr bergen, alles zu verwaschen. Benebelt würde ihr alles nicht mehr so schlimm erscheinen und dann war es nur noch ein kleiner Schritt zum Vergessen und Verdrängen. Das wollte sie nicht.

      Eve kehrte zurück, fischte sich ein neues Bier und nahm ihr gegenüber Platz. Lenina räusperte sich und sagte: »Es tut mir leid.«

      »Was tut dir leid?«, fragte Eve.

      »Dass deine Eltern dich loswerden wollten.«

      »Kannst du ja nichts für.«

      »Ich weiß, aber es ist schrecklich. Ein Glück, dass Mom dich gefunden hat.«

      »An manchen Tagen bin ich mir nicht sicher, ob das ein Glück war.«

      »Doch! Sonst wärst du gestorben.«

      »Na und? Wen kümmert’s?«

      »Deine Familie hier und mich.« Lenina merkte, dass Eve sich wieder aufregen wollte und sah Mom um Bestätigung heischend an.

      »Natürlich kümmert es uns und sie weiß das auch«, antwortete Mom.

      »Ich würde dir gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie.«

      »Lass stecken« sagte Eve und winkte ab.

      »Nein im Ernst. Du hast mir doch auch geholfen, da ist es nur recht und …«

      »Du kannst nichts für mich tun. Du findest nicht mal nach Hause. Lass gut sein. Ich wüsste auch nicht, was du für mich tun könntest.«

      Mom räusperte sich. »Ihre Eltern könnten sich dafür stark machen, dass du einen Ausweis bekommst.«

      »Wozu soll das gut sein?«

      »Mit Ausweis könntest du dir eine Arbeit suchen und eine Wohnung, du könntest etwas aus deinem Leben machen.«

      »Ach Mom! Das ist pures Wunschdenken. Ohne Schulabschluss und Ausbildung bekomme ich nie einen Job.«

      »Na, dann sollen ihre Eltern dafür sorgen, dass du zur Schule gehen kannst.« So schnell wollte Mom sich offensichtlich nicht geschlagen geben.

      »Ich glaube, du überschätzt die Möglichkeiten, die ihre Eltern haben. Ich würde sagen, unterste Oberschicht, oder?« Sie blickte Lenina an. Der stieg die Röte ins Gesicht und sie fragte sich, woher Eve das wissen konnte. Sie nickte und antwortete: »Ja, meine Eltern müssen beide arbeiten, um den Lebensstandard zu halten, aber mein Vater ist in der Stadtverwaltung tätig. Vielleicht kennt er jemanden, der jemanden kennt?«

      »Ach, hört doch beide auf zu träumen!«, schimpfte Eve, schmiss die leere Flasche weg und legte sich mit dem Rücken zu den beiden Frauen hin. Mom nahm das zum Anlass, sich ebenfalls langzumachen. Sie stopfte sich ein paar Kleidungsstücke unter den Kopf und nuschelte: »Gute Nacht zusammen.«

      Niemand antwortete ihr. Lenina gingen so viele Dinge im Kopf herum, dass sie fürchtete, die halbe Nacht wach zu liegen, dazu kam noch die ungewohnte Situation und die Angst, ob nicht Tis oder Anti noch auf dumme Gedanken kommen würden. Der Blinde kippte zur Seite und schnarchte leise vor sich hin. Garantiert würde sie kein Auge zutun …

      Der Gesang einer Amsel weckte Lenina aus wirren Träumen, die sie schnell vergessen wollte. Einen Moment brauchte sie, um sich zu erinnern, wo sie sich befand. Kaum, dass sie die Gestalten um sich herum einordnen konnte, setzte Betriebsamkeit ein. Wasser wurde gekocht und Kaffee aufgebrüht. Alle erfreuten sich offensichtlich bester Laune. Eve bekam von Mom Credits für die Bahn, denn sie schienen sich alle einig darüber zu sein, dass Leninas Eltern zumindest ihre Auslagen ersetzen würden.

      Am Zoo angekommen, sah Lenina ihre Eltern sofort, allerdings befanden sie sich in Gesellschaft von Polizisten. Mist, das stellte ein Problem dar, denn Eve würde sicher nicht einfach Hallo sagen und sich von der Polizei befragen lassen. Sie musste dafür sorgen, dass die Polizei abzog. »Warte hier!«, befahl sie Eve.

      Eve nickte und blieb zurück.

      »Lenina! Da bist du ja!«, schrie ihre Mutter und rannte auf sie zu. »Wo warst du nur? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.« Lenina dachte, sie müsste gleich ersticken, so sehr drückte ihre Mutter sie an sich, und gleich darauf wurde der Druck noch einmal erhöht als ihr Vater sie erreichte.

      »Mein Augapfel! Was bin ich froh, dich zu sehen. Gottlob ist dir nichts passiert.« Mit dem Satz löste er seine Umklammerung, trat einen Schritt zurück, zog seine Frau ebenfalls zurück und musterte seine Tochter. »Dir ist doch nichts passiert, oder?«

      Lenina schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein, ich bin okay.«

      Inzwischen waren die Polizisten herangeeilt und zückten ihre Blöcke. »Möchten Sie immer noch eine Anzeige aufgeben? Sie ist ja wieder da.«

      »Wo warst du denn die ganze Nacht?«, fragte ihr Vater und verfolgte Leninas Blick, der abwechselnd auf den beiden Polizisten ruhte. Er verstand.

      »Meine Herren, vielen Dank, dass sie gekommen sind, aber nun, da unsere Tochter wohlbehalten wieder aufgetaucht ist, brauchen wir Sie nicht mehr.«

      Der eine Polizist steckte seinen Block ein und machte sich direkt auf den Weg zum Einsatzfahrzeug und der andere sah Lenina misstrauisch


Скачать книгу