Pandemie. Группа авторов

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immer, dass man Verbrecher nicht an ihrer Nasenspitze erkennt und außerdem gibt es Banden, die vermeintlich nette Mädchen vorschicken.«

      »So, so! Was du nicht sagst. Wo nimmst du nur deine Weisheiten her?«

      »Das weiß jedes Kind.«

      Konnte Lenina wirklich so dumm sein? Plapperte die einfach alles nach, was man ihr so erzählte? »Na dann. Kommst du nun mit, oder nicht?«

      Lenina schien noch unschlüssig.

      Eve dachte über die Möglichkeiten nach, die zur Auswahl standen: Wenn der Zoo schloss, hielt die Gleitbahn nicht mehr an diesem Halt. Und die ganze Nacht wollte Lenina sicher nicht vorm Zoo darauf warten, dass ihre Eltern mit einem anderen Transportmittel zurückkehrten. Sie hielt es für fraglich, ob diese Eltern es überhaupt wagen würden, außerhalb der Ausgangsstunden das Haus zu verlassen. So naiv wie Lenina sich bis jetzt präsentiert hatte, mussten die Eltern wohl als mustergültige Mitglieder der Gesellschaft angesehen werden. Als sie den Zoo verließen, zog Eve ihren Mundschutz herunter, was direkt neuen Protest hervorrief.

      »Bist du lebensmüde? Setz die Maske wieder auf!«

      »Ich hasse dieses Scheißding! Den Teufel werde ich tun.« Was bildet sich Lenina überhaupt ein, ihr Anweisungen zu erteilen? Das Gör, das hier verloren herumstand und nicht mal mit der Bahn fahren konnte. Lenina blickte sich hektisch um, als sei sie auf der Suche nach Ordnungshütern, die Eve dazu anhalten würden, ihre Maske wieder aufzusetzen, dabei musste man die nur in Geschäften und an Orten tragen, an denen relativ viele Menschen zusammenkamen, wie eben im Zoo. Wobei im Zoo die Anzahl der Besucher streng geregelt wurde. Eve lächelte und fragte: »Suchst du jemanden, der dir beisteht? Jemanden, der mir wie du sagt, ich soll die Maske aufziehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Da kannst du lange warten. Die Kontrollen sind längst zurückgefahren worden und für unsereins interessiert sich sowieso kein Schwein. Ganz im Gegenteil, je mehr von uns verrecken, desto lieber ist es allen.«

      Abrupt blieb Lenina stehen und packte Eve am Arm. »Wie kannst du so etwas sagen? Das ist nicht wahr! Wir lassen niemanden zurück!«

      Oh, mein Gott! Wie sie diese Parolen hasste. Nur weil die Politiker sie gebetsmühlenartig wiederholten, wurden sie nicht wahr. Einen feuchten Kehricht interessierten die Politiker sich für Menschen, die auf der Straße lebten. Und die Sorte Mensch wie Lenina und ihre Eltern waren auch nicht besser. Die behandelten sie wie Aussätzige. »Du glaubst jeden Scheiß, oder?«, fragte sie wütend.

      »Mir bist du nicht egal!«

      »Ich frag dich noch mal, wenn ich meine normale Straßenkluft anhabe.«

      Eve machte sich los und marschierte weiter, nach kurzer Pause, in der sie offensichtlich ihre Gedanken sammeln musste, folgte Lenina. Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her.

      »Wo gehen wir eigentlich hin?«, wollte Lenina wissen.

      »Zu meiner Familie. Deine wird dich heute nicht mehr abholen, da kannst du einen drauf lassen. Und so wie du drauf bist, überlebst du die Nacht nicht, wenn nicht einer auf dich Acht gibt.«

      Erneut stockte Leninas Schritt. Sie schien mit ihrem Stolz zu kämpfen, wusste wohl, dass Eve recht hatte, wollte aber nicht als lebensunfähiges Dummchen dastehen.

      »Und das willst du tun? Auf mich Acht geben? Als purer Menschenfreund? Warum?«

      »Wenn ich von dir auf deine Alten schließen kann, werden die sicher eine Belohnung springen lassen, wenn ich dich heil abliefere.«

      Alleine wegen der Belohnung tat sie es nicht, obwohl sie sich das nicht recht eingestehen wollte. Sie hatte Ratten getötet, um nicht zu verhungern, aber ein Menschenleben wollte sie nicht auf dem Gewissen haben, obwohl sie wusste, dass Menschen wie Leninas Eltern tatenlos zusahen, wenn diese elenden Springerstiefel Obdachlose anzündeten. Ja, man schrie zwar »Oje« und »Owei« aber meistens kamen die Täter mit einem blauen Auge davon, während die Opfer auf ewig traumatisiert zurückblieben.

      Lenina erinnerte sie an einen Hundewelpen, ein hilfloses Wesen, das man auf eine Art einfach gernhaben musste, auch wenn es noch tausend Dinge gab, die die kleine Kreatur lernen musste.

      »Aha, daher weht der Wind. Na, dann pass gut auf, dass mir kein Haar gekrümmt wird, sonst sinkt der Preis«, ätzte Lenina. Es schien, als ob sie sich auf eine bloße Sache degradiert fühlte

      »Ach Scheiße! Ist sonst zwar wirklich nicht meine Art, besonders nicht bei so etepete Tanten wie dir, die noch dazu alles besser wissen, aber ich würd’s auch ohne Belohnung machen.« Sie blickte Lenina ernst an und fuhr fort: »Ich kill dich, wenn du das jemandem erzählst!«

      Nun lächelte Lenina. »Man könnte dich für ein Weichei halten …«

      »Hey, nun werd mal nicht gleich übermütig.«

      Eve, die es gewohnt war, lange Strecken zu Fuß zurückzulegen, merkte, dass Lenina langsamer wurde. Kein Wunder, diese verwöhnten Kids wurden den lieben langen Tag durch die Gegend kutschiert. Klar, machten sie ab und zu Sport, aber lange Strecken gehen, schien nicht ihr Ding zu sein.

      »Was ist los? Geht dir die Puste aus?«, fragte Eve.

      »Nein, ich glaube, ich habe mir Blasen gelaufen …«

      Eve stöhnte. Das passte ins Bild: Schöne neue Schühchen tragen für den Zoobesuch, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Teile erst eingelaufen werden mussten. Womit hatte sie das nur verdient?

      »Zeig mal her!«

      Lenina humpelte zur Bank an der nächsten Haltestelle, setzte sich und zog den Sonntagsschuh aus. An beiden Fersen waren die Blasen aufgeplatzt, aber es blutete nicht.

      »Hättest du mal besser Socken angezogen.«

      »Ich konnte ja nicht ahnen, dass mich jemand durch die halbe Stadt scheucht.«

      »So hat das keinen Wert, zu Fuß schaffst du das nie und nimmer, oder kannst du barfuß laufen? Komm, probier es mal.« Obwohl Lenina sie ungläubig anblickte, ganz so, als hätte sie verlangt, sie solle splitterfasernackt herumlaufen, stand sie auf ging einen Schritt, sagte »Aua!«, ging weiter und klagte: »Nein, das geht nicht, es tut zu weh!«

      »Gut, dann bleibt nur eins.« In diesem Moment fuhr eine Gleitbahn die Haltestelle an, und bevor Lenina widersprechen konnte, packte Eve sie, hob die Schuhe auf und zerrte sie in die Bahn.

      »Was machst du denn jetzt schon wieder?«, zischte Lenina mit unverhohlenem Vorwurf in der Stimme. »Hast du Credits dabei?«

      »Halt die Kappe! Willst du lieber laufen? Oder hast du eine bessere Idee?« Madame Gesetzestreu ging ihr auf den Geist. Es waren nur vier Stationen bis zum Seepark und auf dieser Strecke wurde selten kontrolliert, ein Risiko, das sie durchaus abgewogen hatte.

      Beide setzten sich, die eine sah aus dem Fenster und die andere zuckte bei jeder Bewegung zusammen, als käme ihr Henker auf sie zu. Am Ziel angekommen nickte Eve Lenina zu und beide stiegen aus.

      »Du hältst mich für blöde, oder? Ich kenne mich im Gegensatz zu dir hier aus und weiß, wo viel und wo wenig kontrolliert wird. Hast dir umsonst in die Hose gemacht.«

      »Es ist verboten!«

      »Was du nicht sagst! Du hättest ja zahlen können.«

      »Das ist ungerecht. Du weißt, dass ich kein Geld dabei habe.«

      »Ich habe auch keins dabei. Ich hätte die Strecke laufen können.«

      Diese Anmerkung ließ Lenina verstummen. Eve konnte sich gut vorstellen, wie ihre schöne heile Welt immer mehr aus den Fugen geriet, und sie versuchte abzuwägen, was nun gerade noch so toleriert werden konnte. Diese Nacht würde dem Mädchen noch einige neue Erfahrungen bescheren. Eve fragte sich, ob Lenina versuchen würde, sie schnellstmöglich zu vergessen oder ob sie ihr Leben doch ein Stück weit verändern würde. Lenina trippelte barfüßig neben ihr her und schickte diverse »Au« und »Aua« in die Welt. Nur mit Mühe konnte Eve sich ein Lächeln verkneifen.

      »Ist es noch weit?«, fragte


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