Wie ein Schmetterling im Käfig. Frauke Bielefeldt

Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt


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das ganze Buch – nicht nur an kranke Menschen, sondern auch an Angehörige, Freunde und Bekannte, Ärzte und Psychologen, Seelsorger und Gemeindeleiter. Krankheit betrifft nie nur den Patienten, sondern auch sein Umfeld.

      Dass ich durchweg nur die männlichen Formen verwende, hat rein praktische Gründe. Wer sich daran stößt, möge sich an den vielen Beispielen im Buch erfreuen, die von Frauen handeln. Kranke nenne ich „Kranke“, „kranke Menschen“ oder „Patienten“ – der Begriff „Betroffene“ drückt für mich eine künstliche Distanz aus, die mir im Umgang mit kranken Menschen manchmal negativ auffällt. Mein Wunsch ist, dass die folgenden Seiten helfen mögen, diese Distanz ein wenig kleiner werden zu lassen.

      Teil 1

      Medizin & Gesundheitswesen

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      Kapitel 1

      Im Käfig der Krankheit

       Warum bin ich hier?

       Wer hat mich hierher gebracht?

       Werde ich je wieder

       In die Freiheit hinausfliegen können?

       Es ist eng im Käfig

       Wenn ich stillhalte, geht es

       Aber wenn ich mich bewegen will

       Stoße ich schnell an die Gitterstäbe

       Der Käfig sperrt ein

       Und er schließt aus

       Von dem Leben da draußen

       Ich kann mich beschäftigen

       Oder rausschauen und beobachten

       Das ist immerhin besser

       Als mir ständig den Kopf anzuschlagen

       An den Gitterstäben

       Die zu fest sind

       Um auszubrechen

       Warum bin ich hier?

      Normalerweise bedeutet Krankheit eine Unterbrechung vom normalen Lebensrhythmus. Für ein paar Tage fesselt einen die Grippe ans Bett, nach einer Knieoperation können es auch schon einmal ein paar Monate werden. Aber der Charakter des Ausnahmezustandes bleibt.

      Ganz anders nun, wenn die Symptome chronisch werden oder die Diagnose einer chronischen Krankheit im Raum steht: Multiple Sklerose (MS), Fibromyalgie, chronische Bronchitis, Niereninsuffizienz, Rheuma oder Diabetes. Dann kommen wir nicht darum herum, das Unangenehme als Normalzustand anzuerkennen und einen Weg zu suchen, mit ihm zu leben. Das passiert gar nicht so selten und nimmt leider immer weiter zu.

      Ein paar Zahlen

      Nach vorsichtigen Schätzungen ist in Deutschland etwa jeder Siebte chronisch krank.1 Neuere Umfragen von Statista ergeben sogar schon für die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen einen Prozentsatz von 10 Prozent, der dann bei den älteren Lebensjahrzehnten kontinuierlich ansteigt (zum Beispiel 30- bis 39-Jährige: 20 Prozent, 60- bis 69-Jährige: 38 Prozent).2 Genauere Zahlen liegen vor für Diabetes (2005: ca. 6,3 Mio., 2020: über 7 Mio.),3 Niereninsuffizienz (2011: 80 000)4, Multiple Sklerose (2005: 120 000 bis 140 000, 2020: 220 000 bis 250 000),5 und Krebs. Alleine Brustkrebs zählt jährlich fast 70 000 Neuerkrankungen (2005: 50 000).6 Unter dem Stichwort „Rheuma“ werden verschiedene schmerzhafte Erkrankungen des Bewegungsapparates zusammengefasst (entzündlich oder nicht entzündlich); für die häufigste, die rheumatoide Arthritis (chronische Polyarthritis) geht man von rund 800 000 Erkrankten aus7 – das ist allein für diese Erkrankung fast ein Prozent der Bevölkerung. Für ME/CFS (s. u.) sind die Zahlen schwierig zu erheben, weil die Diagnose oft nicht offiziell gestellt wird, aber Experten und Patientenverbände gehen von 240 000 bzw. 300 000 Erkrankten in Deutschland aus.8 Die Zahlen zeigen nicht nur, dass sehr viele Menschen betroffen sind, sondern auch, wie stark manche Erkrankungen in nur 15 Jahren zugenommen haben.

      Andere häufige Krankheiten sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bleibende Schädigungen nach Unfallverletzungen und Schlaganfällen, chronischer Kopfschmerz, chronische Erkrankungen der Atemwege, Krankheiten des Magen-Darm-Traktes, Tinnitus, Aids, Leberzirrhose und Epilepsie. Verantwortlich dafür gemacht werden steigende Umweltbelastungen, ungesunder Lebenswandel, höhere Lebenserwartung und der medizinische Fortschritt. Da die Lebenserwartung allgemein weiter ansteigt, geht man davon aus, dass dieser Trend in den nächsten Jahrzehnten anhalten wird.9

      Meine eigene Geschichte

      Bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr war ich ein ganz normaler Schmetterling; ich flog durch meine Kinder- und Jugendwiese, kleine Verschnaufpausen wegen Bauchweh oder Erkältung inbegriffen, wie bei jedem Kind.

      Dann kam der Ostersonntag 1990. Auf einer Jugendfreizeit bekam ich eine heftige Grippe, von der ich mich nie wieder erholen sollte. Wochenlang ging es auf und ab; immer wenn ich meinte, bald auskuriert zu sein, kam eine neue Welle von leichtem Fieber, geschwollenen Lymphknoten, Halsschmerzen und bleierner Erschöpfung. Verschiedene Verdachte wurden nicht bestätigt und so blieb nur die vage Aussage, dass mit meinem Immunsystem etwas nicht in Ordnung sei. Die verbleibenden anderthalb Schuljahre überstand ich, indem ich nachmittags und am Wochenende komplett im Bett (oder auf dem Sofa) lag. So konnte ich meine Fehlzeiten an den Vormittagen gerade so in Grenzen halten, dass ich mein Abitur machen durfte. Schon hier erlebte ich wahre Wunder, wenn ich rechtzeitig vor den Klausuren den Stoff noch so aufholen konnte, dass sich meine Ausfälle nicht in den Zensuren niederschlugen.

      So lernte ich, mit meinem eingeschränkten Rhythmus halbwegs zurechtzukommen, und begann ein Studium. Doch am Ende des ersten Studienjahres passierte die zweite Katastrophe: Während eines Urlaubs in der Tschechei holte ich mir Insektenstiche, die sich böse entzündeten. Zwei Wochen war ich richtig krank und meine Beine mit den geschwollenen Entzündungsherden übersät. Es sah ganz nach einer Borreliose aus. Doch weil der Arzt die entsprechenden Werte im Blut damals nicht nachweisen konnte, bekam ich keine Behandlung.

      In den Wochen danach wurde meine Erschöpfung wieder deutlich schlimmer, außerdem stellten sich im nächsten Jahr (1993) schlimme Muskelschmerzen ein, die über die bleierne Abgeschlagenheit weit hinausgingen. Als ich mich vor Schwachheit kaum noch auf dem Stuhl halten konnte, war ich endlich bereit, bundesweit nach Ärzten zu suchen, die mir weiterhelfen konnten. Ich hatte schon einmal von dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS, vgl. Anhang 3) gelesen. In der Beschreibung hatte ich mich vollkommen wiederfinden können, sodass ich mich an einen spezialisierten Arzt in Düsseldorf wandte.

      Nach Blutuntersuchungen im Wert von 8 000 DM waren wir einen echten Schritt weiter: Mein Immunsystem bestand aus einem Durcheinander von zu hohen und zu niedrigen Werten, ich hatte doch eine Borreliose (es gab inzwischen ein neues Testverfahren) und man fand in meinem Blut eine Chemikalie, die mich vergiftet hatte (PCP10, früherer Inhaltsstoff von hoch wirksamen Holzschutzmitteln). Sofort war mir alles klar: Wir hatten 1987 im Haus umgebaut und in meiner neuen Wintergartenecke für die Fußbodenhölzer ein Mittel verwendet, das eigentlich nur für den Außenbereich vorgesehen war. Es hatte monatelang gestunken, aber wir hatten uns nichts weiter dabei gedacht; erst in den Jahren darauf sollten Berichte über durch Holzschutzmittel verseuchte Kindergärten und Schulen in die Medien kommen.

      Nun erinnerte ich mich, dass ich schon ein Jahr vor dem besagten Ostersonntag sehr viel häufiger krank


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