Wie ein Schmetterling im Käfig. Frauke Bielefeldt
ich halt älter! Auf einmal schien das Puzzle zusammengesetzt und ich bekam über Monate hinweg verschiedene Infusionen und Medikamente verabreicht, um die Gifte aus dem Körper zu holen, die Borreliose zu bekämpfen und das Immunsystem wieder aufzubauen. Mir wurde gesagt, dass es mir in einem halben Jahr wieder gut gehen würde, und so stellte ich meine Urlaubs- und Studienpläne darauf ein.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Es geht mir kein bisschen besser, stattdessen sind verschiedene Folgeprobleme dazugekommen. Ich habe zig verschiedene Untersuchungen und Behandlungsversuche mitgemacht, bin operiert worden und habe auch die psychosomatische und die alternativmedizinische Schiene probiert. Ich kann nur ein paar Stunden in der Woche arbeiten, jeden Tag brauche ich sehr viel mehr Schlaf als andere und dazu weitere Ruhephasen. Ich muss einen Rollstuhl benutzen, um länger als ein paar Minuten auf den Beinen sein zu können, zum Beispiel um eine Stadt zu besichtigen oder im Wald zu spazieren. Stehen in einer Warteschlange ist unmöglich, deswegen hole ich mir einen Stuhl (inzwischen habe ich für solche Gelegenheiten einen Fischerstuhl, den man praktisch als Rucksack auf dem Rücken mitnehmen kann) oder bitte jemanden, meinen Platz zu halten.
Jede Veranstaltung oder Feier wird zur Tortur, wenn fast alles im Stehen stattfindet, die Luft schlecht ist oder ich keine Möglichkeit finde, mich zwischendurch hinzulegen. Außerdem bin ich extrem erkältungsanfällig und habe unzählige grippale Infekte im Jahr. In manchen Zeiten kommen heftige Einschlafstörungen oder orthopädische Probleme dazu. Es vergeht kaum eine Woche ohne ein Zusatzproblem zur eigentlichen Erschöpfungsproblematik.
Ich fühle mich oft wie in einem Käfig. Der Käfig heißt ME/CFS. („ME“ ist eine andere Bezeichnung für das nach der WHO unter G93.3 definierte Chronische Fatigue-Syndrom und bedeutet „Myalgische Enzephalomyelitis; vgl. Anhang 3). Doch selbst diese Bezeichnung ist umstritten, besonders in Deutschland. Diese Krankheit hat vor vielen Jahren mein Leben so zerschossen, dass es seitdem keine Normalität mehr gegeben hat. Trotzdem halten mich viele Ärzte für quasi gesund – wie so oft bei ME/CFS-Patienten, die häufig durchs Raster schulmedizinischer Diagnostik fallen, weil die spezifischen Biomarker (noch!) fehlen, die unwiderlegbar beweisen würden, dass wir uns unsere Beschwerden nicht einbilden. Auf den ersten Blick machen die meisten auch einen völlig normalen Eindruck und wirken nicht schwer krank, sodass es dann schwer zu glauben ist, dass man kaum vom Parkplatz bis zum Haus laufen kann geschweige denn in der Lage ist, Stunden am Stück zu arbeiten.
Alle Anstrengung führt zu Erschöpfung, ob ich gehe, stricke oder denke. Aber das sieht man erst hinterher. Selbst ich spüre es so richtig erst einige Stunden später, sodass ich ständig in der Versuchung stehe, mich zu überfordern und hinterher wieder die viel zu hoch verzinste Rechnung zahlen zu müssen. Auch das ist Teil meines Käfigs: mich ständig überwachen zu müssen, um mich nicht in Katastrophen hineinzureiten. Zudem ist mein Käfig für viele unsichtbar – eine Krankheit, von der man in Deutschland noch nicht genügend gehört hat (vgl. Anhang 3), und eine Patientin, die auf den ersten Blick nicht krank wirkt. Wie viele andere habe ich nicht nur mit meinem Käfig zu kämpfen, sondern auch damit, dass andere diesen Käfig nicht wahrnehmen und Dinge von mir verlangen, die für mich einfach unmöglich sind.
Wer ist „schwerwiegend chronisch krank“?
(Richtlinie vom 22.1.2004 zur Gesundheitsreform vom 1.1.2004, im Sinne des § 62 des SGB V, zuletzt geändert am 17.11.2017)
Schwerwiegend chronisch krank sind Patienten, die sich
und außerdem
oder
oder
Jeder Käfig ist anders
Andere Krankheiten bringen andere Probleme und Belastungen mit sich. Vielleicht sind Sie nierenkrank und müssen jeden zweiten Tag auf der Dialysestation verbringen. Oder Sie leiden an Rheuma oder Migräne und müssen mit unerträglichen Schmerzen zurechtkommen. Wer lang anhaltende Schmerzen nicht kennt, kann kaum ermessen, wie viel Kraft das raubt und wie sehr andere Gefühle dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden.
Besonders belastend ist die Situation, wenn nicht herausgefunden wird, worunter man leidet. Ein Mann erzählte einmal in einer Talkshow, dass er schon lange unter seltsamen Zuckungen gelitten hatte (Tics). Es war erlösend für ihn, als endlich jemand die Diagnose stellen konnte: Tourette-Syndrom. „Jetzt hat das Kind einen Namen!“11 Auch für mich war es eine ungeheure Erleichterung, als ich Ärzte fand, die mit der Diagnose „ME/CFS“ arbeiteten. Es macht die Sache noch einmal doppelt so schwer, wenn man schwer krank ist, aber die Krankheit noch nicht einmal benennen kann. Oder wenn es eine Diagnose gibt, aber diese unter den Ärzten nicht anerkannt oder umstritten ist. Das kommt häufiger vor, als man meinen würde. Hier gerät der Patient in die seltsame Rolle, seine eigene Krankheit noch verteidigen zu müssen – als ob er sie irgendwie behalten wollte.
Ein grundlegender Unterschied im Krankheitserleben besteht darin, ob die Krankheit nach außen hin sichtbar ist oder nicht. Menschen, die mit einer Gehbehinderung leben müssen, im Rollstuhl sitzen oder Gliedmaßen amputiert haben, sind mit völlig anderen Problemen konfrontiert als Menschen mit inneren Krankheiten: Viele Orte sind für sie unerreichbar, viele Positionen erst recht, und sie müssen ständig ihren Mitmenschen beweisen, dass sie neben ihrer Behinderung doch eigentlich ganz normale Menschen sind. Das Mitgefühl, das ihnen hierzulande oft prompt entgegenschlägt, ist natürlich besser als offene Ablehnung, wird aber oft als abwertend statt hilfreich empfunden. Man traut ihnen einfach nichts zu!
Eine weitere Gruppe häufiger chronischer Erkrankungen sind psychische Krankheitsbilder. Diese Gruppe hatte ich zunächst gar nicht im Blick, als ich 2005 dieses Buch schrieb, doch es zeigte sich, dass auch Menschen, die von Depressionen, Posttraumatischen Belastungsstörungen oder ähnlichen langwierigen (und oft lebenslangen) Leiden betroffen sind, sich in vielem im Buch wiederfanden. Leben mit vorwiegend psychischer Krankheit bringt seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich, da der „Käfig“ noch näher an den Kern des Menschen heranrückt als beim Leben mit einem kranken Körper und die Lasten nach außen hin noch unsichtbarer und daher für andere oft noch weniger nachvollziehbar sind als bei körperlichen Gebrechen.
Auch die Verläufe der Krankheiten können sehr unterschiedlich sein. Während einer mit einer konstant schlechten Situation lebt, werden andere von Schüben heimgesucht (rezidivierend – wiederkehrend) oder müssen zusehen, wie es immer weiter bergab geht (progredient – fortschreitend). Und natürlich der Schweregrad der Einschränkungen und Beschwerden – manche werden sich beim Lesen dieses Buches wiederfinden, während es einigen zu krass dargestellt erscheinen wird und anderen wiederum als zu harmlos.
Besonders erschütternd ist chronische Krankheit bei Kindern. Manche müssen sich mit Neurodermitis oder Heuschnupfen herumschlagen, andere bekommen schon früh schwere Krankheiten wie Diabetes. ME/CFS-kranke Kinder können oft