Wie ein Schmetterling im Käfig. Frauke Bielefeldt

Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt


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lernt er schon früh, mit seinen Rahmenbedingungen umzugehen.

      In Gesprächen mit Körperbehinderten, die seit ihrer Geburt eingeschränkt waren, fiel mir auf, dass sie ein ganz anderes Lebensgefühl beschreiben. Sie kannten ihren Körper und ihr Leben gar nicht anders, während ich siebzehn Jahre lang ein ganz normales gesundes Leben geführt habe, das ich lange noch irgendwie als Ausgangsstandard verinnerlicht hatte. Beides hat seine Tücken: Sie hadern nicht so sehr mit ihrem Zustand, kennen nicht diese tiefe innere Rebellion und Auflehnung gegen den eigenen Leib. Dafür haben sie eher das Gefühl, in einer Schublade zu stecken und vieles, was zum Leben Gesunder dazugehört, gar nicht zu kennen. Wie ein Blinder, der gar nicht weiß, was Sehen ist – oder der es einmal gekannt hat und nun umso schmerzhafter vermisst.

      Ein letztes Merkmal, das den ganz persönlichen Krankheitskäfig entscheidend mitbestimmt, liegt darin, ob die Krankheit lebensbedrohlich ist oder nicht. Wenn der Tod droht, ist der kranke Mensch mit ganz neuen Herausforderungen an seine Existenz konfrontiert. Auch wenn es ihm zwischendurch gut geht, ist sein Leben doch völlig auf den Kopf gestellt und von dem drohenden Ende überschattet.

      Ein Angriff auf das Leben

      Alle Krankheiten haben eines gemeinsam: Sie setzen uns engere Grenzen. Eine ME/CFS-kranke Frau sagte zu mir: „Das Schlimmste am Kranksein ist, vom Leben abgeschnitten zu sein. Mein Aktionsradius ist so begrenzt!“

      Das ist bei Rollstuhlfahrern am offensichtlichsten, für sie gibt es unüberwindbare Schwellen, Treppen und Absätze. Ich fragte eine Freundin, die wegen einer neuromuskulären Blockade seit ihrer frühen Kindheit einen Rollstuhl braucht, welches ihre größten Schwierigkeiten im Alltag seien. Sie schrieb mir: „Für Rollstühle unzugängliche Gebäude wie Kinos, Läden, Cafés, Arztpraxen, Wohnungen, Schulen, Ämter … das macht mindestens 80 Prozent aller Schwierigkeiten aus. Wenn man überhaupt mal überall reinkäme, wäre schon vieles gewonnen!“

      Für mich ist es die Wegstrecke von 300–500 m, die ich an den meisten Tagen nicht überschreiten kann, die Erschöpfung, die mir nach einem Treffen mit Freunden einen Ruhetag einbrockt, oder die zehn Stunden Schlaf pro Nacht, ohne die bei mir gar nichts geht. Unser Körper kann zum Gefängnis werden, von dem es keinen Ausgang oder Urlaub gibt. Wir nehmen ihn immer mit.

      Das verbaut nach und nach viele Lebensmöglichkeiten, unter denen die Erkrankten oft mehr leiden als unter der eigentlichen Krankheit. Eine Freundin, die schon sehr lange schwer krank ist, erlebt fast täglich große Schwäche, Krämpfe und unerträgliche Schmerzen. Trotzdem sagt sie mir immer wieder, dass für sie das Schlimmste am Kranksein das Alleinsein ist. Sie ist eigentlich ein geselliger Mensch, aber ihre Schwachheit erlaubt es ihr kaum, mit anderen Menschen zusammen zu sein, selbst Telefonieren ist oft nicht möglich. Krankheit sperrt ein und schließt aus. Damit zerstört sie auf Dauer die Lebensperspektive. Ein ME/CFS-Kranker nannte einmal die Perspektivlosigkeit als den für ihn schlimmsten Punkt am Kranksein.

      Egal wo für die kranke Person der subjektive Schwerpunkt liegen mag, die Krankheit greift ihr Leben an, sei es buchstäblich biologisch oder im sozialen, beruflichen oder psychischen Bereich. Krankheit zerstört die körperlichen Funktionen und damit verbunden unsere Lebensmöglichkeiten. Sie entfremdet uns von unserem eigenen Körper. Sie zerbricht die Einheit zwischen unserer Person und unserem Leib und verletzt damit nicht nur unseren Organismus, sondern uns selbst.

      Ein Spruch besagt: „Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen einzigen.“12 Wenn wir krank werden, wird unser ganzes Leben infrage gestellt: Werden wir je wieder glücklich sein können? Was fangen wir jetzt noch an mit unserem Leben? Wir fühlen uns zutiefst verunsichert, unser Körper sendet ständig unangenehme und alarmierende Signale aus und Ängste steigen in uns auf: Werden wir je wieder wie vorher leben können? Wie wird sich unser Leben verändern? „Hauptsache, gesund“?

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      Anstoß für Kranke

      Ich will mir darüber klar werden, wie mein ganz persönlicher Krankheitskäfig aussieht.

      Was macht ihn aus, womit komme ich zurecht, worunter leide ich besonders?

      In welchen Punkten brauche ich neue Lösungen? Wie und wo könnte ich danach suchen?

      Kapitel 2

      Überleben im Ärztezirkus

       Zirkus Medizin

       Das Ärztekarussell dreht sich

       Tablettenregen in allen Farben

       Messwerte hangeln sich

       In schwindelerregender Höhe

       Von einem Plateau zum nächsten

       Der Dompteur schwingt seine Peitsche

       Die Clowns lachen schrill

       Ein Lama spuckt verächtlich auf

       Das Versuchskaninchen in der Manege

      – Als Sie aus diesem Albtraum erwachen, stellen Sie fest, dass Sie immer noch im Wartezimmer sitzen. Ihr Termin verschiebt sich weiter nach hinten und die Luft ist von den vielen wartenden Leuten inzwischen so schlecht, dass Sie ein wenig eingenickt waren. Nun ist wieder alles da: die kalten Flure, die (meist uralten) Illustrierten, Ihr schales Beklommenheitsgefühl in der Magengegend.

      So kann es Ihnen gehen, wenn Sie selbst zur betroffenen Person geworden sind. Der Ärztezirkus hält eine Fülle von Szenarien bereit, von denen ich Ihnen hier einige vorstellen möchte.

      Als Sie zum ersten Mal in die Arztpraxis kamen, war alles noch ganz anders. Sie hatten sich entschieden, der Sache auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was mit Ihrem Körper los ist. Der Doktor würde Ihnen sagen können, was Sie haben und was zu tun sei. So war es doch immer gewesen: Man hatte einen gebrochenen Arm oder eine Entzündung am Auge, ging zum Arzt, bekam einen Verband oder etwas verschrieben, und dann war wieder alles in Ordnung. Wenn es ganz schlimm kam, wurde man vielleicht noch an einen Facharzt überwiesen oder musste sich am Ende gar einer Operation unterziehen.

      Doch dann passiert das Schockierende: Ihr Arzt findet nichts Eindeutiges und schickt Sie zu einer Reihe von Fachärzten. Die ersten beiden finden nichts Ungewöhnliches. Der dritte stellt etwas fest, aber er weiß keine Hilfe dagegen. Der vierte schlägt Ihnen eine Therapie vor, aber der fünfte sieht Ihren Fall wieder ganz anders und von dieser Behandlungsform rät er erst recht ab.

      Dann findet man eine echte Spur. Seitdem nehmen Sie regelmäßig Medikamente, bekommen häufig Blut abgenommen, verfolgen verschiedene Behandlungsmethoden. Seitdem haben Wartezimmer und Sprechstundenhilfen einen festen Sitz in Ihrem Leben. Aber nichts hat Ihnen bis jetzt so recht helfen können. Immer wieder gibt es Rückschläge, mit denen niemand gerechnet hatte.

      Das ist noch lange nicht die einzige schockierende Erfahrung, die auf Sie zukommen kann. Szenario 2 könnte folgendermaßen aussehen:

      Es wird tatsächlich ein eindeutiger Befund festgestellt. Doch die Diagnose trifft Sie wie ein Hammer. Alzheimer – Sie werden nie wieder gesund werden. Oder Niereninsuffizienz – Sie werden fortan jeden zweiten Tag Ihres Lebens auf der Dialysestation verbringen. Von einem Tag auf den anderen ist Ihr Leben auf den Kopf gestellt und Sie müssen bitter erkennen, dass es viele Krankheiten gibt, für die man noch keine hilfreichen Therapien gefunden hat oder die noch gar nicht richtig bekannt und erforscht sind.

      Vielleicht hatten wir in unserem Hinterkopf die Vorstellung eines Halbgottes in Weiß, der für alles eine Lösung hat und alles wieder in Ordnung bringen wird. Vielleicht haben Ärzte dieses Bild auch nach Kräften unterstützt und nicht die nötige Transparenz gezeigt, die ein realistischeres


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